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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zurückgekehrt.
    Auf dem Platz vor der Paulskirche sah Abschaffel einen langen Sattelschlepper stehen. HERKULES DER RIESENWAL AUF EUROPATOURNEE stand mit weißen Buchstaben auf der blauen Plane des Sattelschleppers. Einige Leute standen darum herum, und Abschaffel überlegte, ob er sich den Wal anschauen sollte. Oder war es nicht besser, einfach zu Margot zu gehen? Sie war jetzt sicher zu Hause. Er spielte mit seiner Langeweile und seiner Unentschlossenheit. Er wollte seine Beziehung zu Margot wieder geordnet haben, aber es sollte nicht so aussehen, daß beide hinterher glaubten, er sei der Grund für die Zerwürfnisse gewesen. Er stand vor dem Sattelschlepper und mühte sich ab, sein Verhalten zu entlarven. Was war er wirklich? Augenblicklich sah er in Margot seine Mutter, die er lieben müßte. Die Liebe zur Mutter war ein Automat aus der Kindheit, der zu spät in die Brüche ging. Und wenn Margot eine Verlängerung seiner Mutter war, dann würde es ihm niemals möglich sein, sie offen zu bemängeln. Er würde sich immer so verhalten, daß Margot aus seinem Verhalten mühsam eine Rüge erschließen mußte. Und wenn sie die Rüge endlich entdeckte, würde sie ihn beschimpfen, und dann endlich würde er sich trauen zurückzuschimpfen. Dann erst nämlich hatte er den Schutz, aus einem vermeintlichen Angriff heraus agieren zu können. Und das alles nur, weil er sich nicht traute, die Liebe zur Mutter endlich zu kündigen. Sollte das heißen, daß er sich überhaupt nicht richtig vorhanden fühlte, wenn er sich nicht über das Medium der Mutter mit sich selbst verständigen konnte? Und mußte er Margot als Mutterverlängerung deswegen beschimpfen, weil sie als Schmarotzer seiner eigenen Selbstverständigung immer dazwischensein würde? O Gott, diese Fragen hoben ihn fast in die Höhe, und die Unfähigkeit, sie verbindlich zu beantworten, erzeugte Druck im Kopf. Fast war er dankbar, sich mit HERKULES zerstreuen zu können. Er hatte sich schon einen Handzettel geben lassen und spielte vor der Kasse eine Weile einen Mann, der sich nicht sofort entscheiden konnte. Angeblich war HERKULES dreizehn Meter lang, zwei Meter zwanzig hoch und fünfzig Tonnen schwer. Noch vor der Kasse tat er so, als sei er an dem Wal überhaupt nicht interessiert, sondern wolle nur fahrenden Schaustellern die Tageseinnahme verbessern. Erst als er in dem knappen Zelt war, das an einer Seite des Sattelschleppers ausgefaltet war, bemerkte er, daß er nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst wieder getäuscht hatte. Auf der Ladefläche des Sattelschleppers lag ein riesiges grauschwarzes Ding. Das sollte der Wal sein? dachte er und war enttäuscht. Offenbar hatte er erwartet, einen lebenden Wal schwimmend auf dem Sattelschlepper zu sehen. Er beschimpfte seine kindische Erwartung mit richtigen Sätzen. Wie soll denn ein dreizehn Meter langes Tier, das noch dazu nur im Wasser leben konnte, auf einem Sattelschlepper lebend umhergefahren werden können? Abschaffel überlegte, ob er der einzige war, der nicht ganz ausgeschlossen hatte, einen lebenden Wal zu sehen. Es waren ein paar Mütter mit ihren Kindern im Zelt. Die Frauen standen schweigend im Hintergrund und hielten Kleidungsstücke ihrer Kinder in Händen. Die Kinder sprangen umher und redeten mit dem Wal, als lebte er wirklich, und Abschaffel bemerkte, daß außer ihm niemand in diesem Zelt war, der seine Selbsttäuschung überhaupt hätte begreifen können. Es erschien ein Mann und nahm ein Mikrofon und stellte sich vor den Besuchern auf und sagte, das ist ein Blauwal, und es ist eine Sensation, daß Sie diesen Wahl besichtigen können. Der Wal ist am 14. Dezember 1975 in Dänemark gestrandet, erzählte der Mann, wahrscheinlich ist er von Grönland zu weit weggeschwommen und hat sich verirrt. Das Auge ist eine Attrappe, sagte der Mann, denn Augen kann man nicht mumifizieren, und der Wal ist innen leer und wird von einem Stahlgerüst gehalten. Das war der Augenblick, in dem Abschaffel zu glauben begann, einem Schwindler zuzuhören. Was an diesem sogenannten Wal war eigentlich echt? Abschaffel sah konzentriert auf die Haut des Tiers, und er war überzeugt, daß sie aus Pappe war, eine Theaterkulisse für eine Märchenvorstellung war das, natürlich. Er warf sich und allen Leuten vor, daß die Welt nur noch ein allgemeines Betrugsgefühl war, in dem das Auftauchen eines Pappwals nur zu den Beiläufigkeiten zählte, über die sich niemand mehr erregte. Wie unbegreiflich offen der Mann mit dem

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