Abschaffel
herausgefordert zu haben und nach bestandenen Kämpfen ein Recht auf Verachtung zu haben. Tatsächlich hatte er nicht einmal einen kleinen Finger in die Kälte der Welt gehalten. Er war schon vor zwanzig Jahren zurückgeschreckt, und er schreckte noch immer zurück. Erlebte nur in geträumten Auseinandersetzungen, denn er war ein gräßliches altes Kind, das in den Kleidern eines Erwachsenen in einem Kinderbettchen lag und darüber jammerte, daß es seine Beinchen nicht ausstrecken konnte.
Total erledigt ging er aus der Toilette. So weit hätte es nicht kommen dürfen. Warum war es so weit gekommen, daß er sich seine eigenen Täuschungen nicht mehr glaubte? Ich habe keinen Mut zum Leben, dachte er, als er die Toilette verließ. Ich habe keinen Mut zum Leben, dachte er noch einmal. Ich will alle Schmerzen schon gehabt haben, ich will tot sein. Immer wenn er als Kind das Haus verließ, hatte ihm die Mutter nachgerufen: Paß auf, damit dir nichts geschieht. Und genau das hatte er bis heute immer getan: aufgepaßt, damit ihm nichts geschah. Und weil er trotzdem ein Gefühl davon bekommen hatte, daß niemand leben konnte, ohne daß ihm etwas geschah, phantasierte er sich nachträglich in Auseinandersetzungen hinein, die niemals stattgefunden hatten. Und während er und seine Mutter wirklich geglaubt hatten, daß ihm nichts Schlimmes geschah, trennte ihn die Schule ab von den anderen. Er blieb auf der Leiter stehen und fand die nächste Sprosse nicht mehr. Aber die Mutter hörte auf zu reden und begann zu schimpfen: Du mußt auch besser aufpassen, damit dir nichts geschieht.
Unglücklicherweise begegnete er dem bleichen Gersthoff. Offenbar wollte er ebenfalls in die Toilette. Gersthoff ging unkonzentriert, manchmal schwankte er sogar. Abschaffel trat noch einmal zurück zur Toilette und hielt Gersthoff die Tür auf. Gersthoff fiel leicht auf Abschaffel drauf. Es war zwar nur ein leichter Aufprall gewesen, aber Abschaffel fürchtete, für den zitternden Gersthoff könne er zuviel gewesen sein. Die Berührung mit Gersthoff war ihm unangenehm. Gersthoffs Tage waren gezählt. Er konnte den Kugelschreiber nicht mehr richtig halten, und Ajax hatte ihm vor zehn Tagen gekündigt. Damit es besser aussah, hatte ihm Ajax als Abfindung sechs Monatsgehälter versprochen. Aber Gersthoff hatte sich auf diesen nur schwach verzuckerten Angestelltentod nicht eingelassen. Ich will mein Recht, hatte er mehrfach im Büro gesagt, ich will mein Recht. Welches Recht wollte er? Gersthoff tat, als sei der Tod ein Teil eines Tarifvertrags, über den noch etwas auszuhandeln sei. Er hängte sich an Mörst, den Betriebsratsvorsitzenden, und Mörst rief noch einmal die Rechtsabteilung der Gewerkschaft an. Mörst wollte Gersthoff tatsächlich helfen, aber die Gewerkschaft machte endgültig nicht mit. Damit hätte auch für Mörst die Geschichte zu Ende sein können, aber Mörst gab sich immer noch nicht zufrieden. Er half Gersthoff auf eigene Faust. Er war für Gersthoff zum Arbeitsgericht gegangen und focht die Kündigung von Ajax privat an. Mörst riskierte viel. Er war als Betriebsrat nur so lange unkündbar, solange er Betriebsrat war. Und Ajax hatte rasch erfahren, daß die Gewerkschaft den Fall Gersthoff endgültig fallengelassen hatte. Und weil Mörst dennoch nicht aufgab, verschob sich die Auseinandersetzung um Gersthoff in einen stillen Kampf Ajax gegen Mörst. Das Arbeitsgericht hatte schon einen Termin bekanntgegeben. Ajax hatte Mörst, zum letztenmal vor der Verhandlung, zu sich kommen lassen. Mörst sollte endlich aufgeben. Es sieht doch jeder, daß Gersthoff eine Null ist, hatte Ajax gesagt, und Mörst hatte es weitererzählt. Wir sind eine Firma und kein Krankenhaus, seien Sie vernünftig und nehmen Sie die Klage zurück. Aber Mörst hatte nichts zurückgenommen. Er ließ es auf die Verhandlung ankommen.
Abschaffel saß an seinem Schreibtisch und wartete, daß Gersthoff aus der Toilette kam. Immer noch hatte er Angst, Gersthoff liege vielleicht auf dem Steinboden der Toilette und röchelte seiner letzten Stunde entgegen. Aber es öffnete sich die Tür, und Gersthoff schwebte heraus. Seine immer etwas ungenauen Bewegungen verschafften ihm den Ausdruck des Schwebens. Er ging zurück zu seinem Schreibtisch, und Abschaffel sah, daß ihm der Kugelschreiber schon wieder auf den Boden fiel. Er bückte sich nicht, sondern nahm einen anderen Kugelschreiber. Abschaffel zwang sich, in eine andere Richtung zu sehen. Er sah aus dem Fenster hinaus
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