Abschaffel
fehlenden Trennwände im eigenen Körper hochzuziehen. Abschaffel hockte an seinem Schreibtisch und sah auf die angefangenen Mauern in seinem Körper herab. Er sehnte sich den Feierabend herbei, und er sehnte sich nach Margot, aber sie hatte auch heute wieder nicht angerufen. Er wußte nicht, was er heute abend machen sollte, und er fürchtete sich vor dem Alleinsein. Er strich sich mit dem Handrücken über die untere Gesichtshälfte, und er bemerkte, daß er sich rasieren mußte. Es kam ihm wie eine Hoffnung vor, daß er noch Barthaare hatte. Soeben hatte er sich dringend vorgenommen, keiner Bürogeschichte mehr zuzuhören, aber schon wieder war er in eine Aufmerksamkeit verwickelt. Er mußte eine neue Armbanduhr betrachten, die ein Lehrling umherzeigte. Die Uhr hatte keine Zeiger und kein Zifferblatt und keine Ziffern. Wenn der Lehrling die Zeit wissen wollte, mußte er mit der anderen Hand einen kleinen Schieber am Uhrgehäuse eindrücken, dann leuchtete auf dem schwarzen Rund des Zifferblatts in elektronischer Schrift die Zeit auf. Je mehr diese kranke Uhr bewundert wurde, desto stärker wurde in Abschaffel die Verachtung. Er sah mehrfach auf seine eigene Uhr und war mit ihr zufrieden. Sie hatte einen kleinen und einen großen Zeiger, und beide Zeiger zeigten auf Ziffern. Er empörte sich über eine fremde Uhr, die ihn nichts anging. Prompt war ein Uhrengespräch im Gange, an dem etwa sechs Kollegen teilnahmen. Jeder erzählte, wann er seine eigene Uhr gekauft hatte. Wie Uhren verlorengingen, wie Uhren wiedergefunden wurden, wie Uhren kaputtgingen und wie lange Uhren hielten. Abschaffel sah aus dem Fenster. Er öffnete halb den Mund und sog Luft ein. In seinem Abscheu für die Uhr des Lehrlings bemerkte er glücklicherweise nicht, daß die Art, wie er neue Erscheinungen verurteilte, ein Zeichen seiner eigenen Veralterung war. Eine Uhr konnte für ihn nur ein Gegenstand mit zwei Zeigern und einem Zifferblatt sein. Und die Erwartung, daß ein Ding sich selber immer ähnlich blieb, war ein Grundrecht aller alt werdenden Personen. Ich werde diesen Lehrling niemals nach der Zeit fragen, und wenn ich den Feierabend versäume, dachte er mehrfach. Niemals niemals, dachte er. Er vertiefte sich weiter in die Verurteilung der Uhr und beklagte, daß aus den simpelsten Gegenständen heutzutage immer gleich Geräte der Unterhaltung gemacht werden mußten, damit jeder einzelne, der im Imperium der Langeweile gefangen war, ach, Quatsch, er wollte überhaupt nicht denken. Mein Gott, dachte er endlich, das kann mir doch alles gleichgültig sein. Er blickte auf, und ganz langsam leerte sich sein Kopf.
Am Feierabend bot ihm ein Kollege an, ihn im Auto mit in die Stadt zu nehmen. Abschaffel lehnte freundlich ab; er wollte sich heute auf nichts und niemanden mehr einlassen. Er wollte die ganze Strecke bis in die Stadt zu Fuß zurücklegen. Das Gehen tat ihm gut. Wirklich hatte er das Gefühl, durch Gehen alles vergessen zu können. Er fühlte sich wie eine große weite Fläche, über die man endlos hinwegsehen konnte. Was sollte er tun? Er dachte an Margot. Er wollte sie treffen, aber er genierte sich. Bald war er in der Stadt. Wahrscheinlich erwartete Margot, daß er sich entschuldigte. Gelangweilt betrachtete er die Auslagen der Geschäfte. Es fielen ihm die Eltern ein. Wenn sie sich langweilten, sahen sie gemeinsam aus dem Fenster. Sie holten sich zwei dünne Kissen, meistens zwei Stuhlkissen, legten sie auf das Fenstersims und stützten die Arme drauf. Die Mutter stellte sich manchmal einen Stuhl an das Fenster, und zwar mit der Lehne zur Wand, so daß sie ihren Körper mit den Knien auf der Sitzfläche des Stuhls aufbocken konnte. Der Vater sah ohne Stuhl aus dem Fenster, weil er sich mit Stuhl nicht mehr so gut zwischen den Beinen hätte kratzen können. Die Eltern flüsterten leise über alles, was sie auf der Straße sahen, und es war doch so wenig, was es in dieser Straße zu sehen gab. Schon als Halbwüchsiger fand es Abschaffel unglaublich, wie die Eltern es fertigbrachten, ihre Langeweile nicht aus den Wohnungen hinauszutragen, sondern sie bloß an den Fenstern zu lüften, um wieder gut mit ihr weiterleben zu können. Niemals hatte er sich getraut, die Eltern zu fragen, was es denn auf der Straße zu sehen gab. Ganze Sommerabende lang hingen sie zusammen in einem Fenster, und wenn sie es spätabends wieder schlossen, dann ächzten und stöhnten sie glücklich auf, als wären sie soeben von einer Atlantikrundfahrt
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