Abschaffel
geschehen war, daß er plötzlich einen Kollegen grüßte, von dem er seinerseits lange nicht mehr gegrüßt worden war. Plötzlich wieder gegrüßte Kollegen stürzten sich in Überlegungen über die Bedeutung derartiger Vorkommnisse. Die naheliegende Erklärung eines kurz bevorstehenden feindlichen Akts war oft, aber nicht immer zutreffend. Manchmal schlug die Stimmung zwischen zwei Kollegen aus bloßem Überdruß an der Feindseligkeit in Freundlichkeit um, ohne Grund, es sei denn, daß der Überdruß an der Feindseligkeit auch ein Grund war. Ronselt füllte seinen Lottoschein aus. Das bedeutete, daß er in der Mittagszeit in die Stadt fuhr, um den Schein abzugeben. Für den Lottoschein benutzte er seinen Privatkugelschreiber aus der linken Anzuginnentasche. Vorher machte er drei Probestriche auf einem Blatt Papier. Wegen der Sturheit, mit der Ronselt Woche für Woche an seine plötzliche Bereicherung glaubte, hatte Abschaffel wieder Lust, ihn zu verachten. Und er glaubte, seine Verachtung schon ausgedrückt zu haben, als er sich erhob und auf die Toilette ging. Abschaffel hatte schon oft bemerkt, wie sehr Ronselt Lust hatte, seine Lottogeschichten auszubreiten. Er hatte die Zahlenkombinationen im Kopf, mit denen er vor zwölf oder sechzehn Wochen neun Mark achtzig gewonnen hatte. Abschaffel hörte diese Geschichten manchmal im Vorbeigehen, wenn Ronselt sie anderen Kollegen erzählte. Immerhin hatte Abschaffel es fertiggebracht, daß Ronselt ihn damit in Ruhe ließ. Ronselt war ein so kleiner Angestellter geworden, daß er wieder an das große Glück glaubte. Und Abschaffel verachtete nicht nur die, die noch immer an irgendein Glück glaubten; er war inzwischen sogar so weit, daß er das Glück selbst, seines ewigen Ausbleibens wegen, verachtete. Er wusch sich in der mit Neonröhren überhell erleuchteten Toilette zum viertenmal an diesem Morgen die Hände, und dabei erinnerte er sich, daß er im Alter von zwölf oder dreizehn Jahren zum letztenmal davon ausgegangen war, daß es so etwas wie das Glück gebe. In diesen Jahren hatte sich sein Leben langsam umgewandelt. In der Schule ging es ihm von Jahr zu Jahr schlechter, und seine Eltern machten sich langsam darauf gefaßt, aus der Schulzeit ihres Sohnes eine peinigende Erzählung machen zu müssen. In diesen Jahren hatte er das erlösende Glück gesucht, und er suchte es dort, wo es Kinder vermuten. Er beteiligte sich an Malwettbewerben von Nudelfabriken, Margarinekontoren und Dosenmilchfirmen und hoffte auf einen der Preise. Hinzu kamen Preisausschreiben und Rätselturniere, die manchmal von der Lokalzeitung veranstaltet wurden. Abschaffel schickte als Kind seine Zeichnungen und Lösungskarten ein, wie es verlangt war, er wartete Monat um Monat, und er glaubte jede Woche neu, daß das Glück, wenn man es so inständig hofierte, sich nicht versagen konnte. Aber er gewann nie etwas, nicht ein einziges Mal. Noch nicht einmal ein sogenannter Trostpreis fiel für ihn ab. Es war unbegreiflich.
Abschaffel trocknete sich am automatischen Handtuchspender die Hände ab. Eine der Neonröhren an der Decke flackerte seit Wochen und summte dazu. Abschaffel dachte über das Wort Trostpreis nach; er überlegte, warum er das Wort, als er Kind war, so gut verstanden hatte. Es bedeutete, daß alle, die nichts gewonnen hatten, das Gefühl haben sollten, sie hätten doch etwas gewonnen. Alle, die leer ausgingen, sollten sich täuschen können. Und zugleich war ein Trostpreis auch noch eine Erfindung, um die anderen verstehen zu können, die wirklich etwas gewonnen hatten. Es gefiel ihm, was er in der Toilette dachte. Er glaubte plötzlich, ein Meister des Lebens zu sein, weil er, zum Beispiel, das Glück schon ganz früh als Gespenst leerer Kindernachmittage entlarvt hatte. Wenn es nur wahr gewesen wäre. Wenn er nur dieser Meister des Lebens geworden wäre. Wenn er nur der unerschrocken Lebende hätte sein können, der nicht mehr zu täuschen war. Zwischen vier weißen Kachelwänden stehend, gestand Abschaffel sich ein, daß er sich soeben belogen hatte wie schon lange nicht mehr. Er hatte sich als Kind nicht ein einziges Mal an einem Malwettbewerb beteiligt, nicht ein einziges Mal an einem Preisausschreiben oder einem Rätselturnier. Er hatte nie etwas gewonnen, weil er niemals an einem solchen Wettbewerb teilgenommen hatte. Er glaubte nur manchmal gern, an allem beteiligt gewesen zu sein. Dann war er überzeugt, alles ausprobiert zu haben, das Leben schon wie ein Held
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