Abschaffel
Mikrofon log! Der Wal ist in Dänemark gestrandet, GESTRANDET hatte er gesagt und sagte es wieder, wie konnte ein Wal stranden, der schwamm doch weiter, ein Wal ist doch kein Holzkahn, der irgendwo hängenbleibt. Abschaffel drückte sich aus dem Zelt heraus und versuchte, das Schaustellerpersonal finster anzusehen. Eine kleine Niedergeschlagenheit stieß ihn endgültig hinaus. Draußen mischte sich in die Finsternis seines Gesichts wieder die Erinnerung an Margot, und wieder empfand er die Schwierigkeit, daß er nicht wußte, wie er Margot begegnen sollte. Wahrscheinlich würde es wenigstens eine Aussprache geben, eine Abklärung von Vorwürfen und Schuldanteilen. Er tat, als hätte er schon Dutzende solcher Aussprachen hinter sich und als hätte er jedesmal hinterher festgestellt, daß sie nichts taugten. Und tief innen meldete sich seine Überzeugung, daß er die wirklich wichtigen Auseinandersetzungen sowieso nur mit sich selbst führen konnte. Warum war es denn nur so schwer, sich wieder zurückzumelden? Er bemerkte, daß er den Entschluß zum Besuch von Margot schon gefaßt hatte, weil er aber noch nicht wußte, wie er das praktische Aufeinandertreffen gestalten sollte, tat er eine Weile so, als hätte er sich noch nicht entschlossen. Sein Körper war weich und müde geworden. Er begann zu überlegen, was er Margot sagen könnte. Er ging über den Eisernen Steg nach Sachsenhausen, dort wohnte Margot. Sie wohnte in einem Ein-Zimmer-Appartement mit Küche und Bad. Er war nicht sehr oft bei ihr gewesen. Ihre Wohnung war genauso nachlässig eingerichtet wie seine, aber ertragen konnte er nur seine eigene Nachlässigkeit. Ihre Wohnung war wie eine Nichtanerkennung des Lebens, und diese Nichtanerkennung steckte in so vielen Details, in so vielen Unterlassungen und Unordentlichkeiten, daß er jedesmal Schwierigkeiten hatte, sich in ihrem Zimmer auf einen Stuhl zu setzen.
Sein Mund war trocken und sein Kopf weit und flimmernd, als er vor Margots Tür stand. Sie war sofort freundlich und bat ihn einzutreten. Er war verblüfft. Es fiel kein Wort darüber, daß sie sich eine Weile nicht gesehen hatten. Aber als er in das Zimmer trat, sah er eine blonde Frau in einem Sessel sitzen. Margot stellte ihn und die Frau vor. Das ist Barbara, eine Arbeitskollegin, sagte Margot. Abschaffel und die blonde Frau, die in Margots Alter war, gaben sich die Hand. Er setzte sich ein wenig abseits und bereute schon, daß er gekommen war. Es machte ihm Schwierigkeiten, mit Barbara umzugehen. Die beiden Frauen duzten sich, und sie redeten über Frisuren und Kleider, und Abschaffel hörte nicht hin. Er blätterte in einer Illustrierten herum und sah im Zimmer umher. Dadurch bemerkte er nicht, daß die Unterhaltung der Frauen schnell zu anderen, auch für ihn wichtigen Themen überging. Das heißt, er bemerkte den Wechsel, aber weil er zuvor so lange still in sich gekehrt gewesen war, fand er nicht so schnell in ein anderes Verhalten. Man hätte das Gespräch wie einen Zug anhalten und ihn bitten müssen, an einer für ihn passenden Stelle einzusteigen. Sie redeten darüber, ob sie für immer in Ein-Zimmer-Appartements bleiben sollten oder ob sie nicht in ein Alter gekommen waren, wo sie sich mehr wünschten als das, was sie unmittelbar zum Leben brauchten, eine größere Wohnung zum Beispiel. Ich bin immer noch zufrieden mit dem, was ich habe, sagte Margot; mehr als die Sachen, die in diesem Zimmer sind, brauche ich nicht. Mir geht es eigentlich auch so, sagte Barbara, obwohl ich mir das immer wieder sagen muß, damit ich es auch glaube, und das ist verdächtig. Margot lachte. Es gefällt mir immer mehr, daß ich aus zerrütteten Verhältnissen stamme, sagte Margot; dadurch ist heute gewährleistet, daß ich ganz wenig brauche. Das geht aber nur, antwortete Barbara, wenn man das, was einem während der Zerrüttung gefehlt hat, sich nicht als Sehnsucht für später aufgebaut hat. Wenn man sich danach heute sehnt, dann geht es einem ganz schlecht, weil man in ein unersättliches Wünschen hineinkommt, sagte Barbara. Gott sei Dank geht es mir nicht so, sagte Margot. Das heißt aber doch, sagte Barbara, daß du als Kind, während man dich zerrüttet hat, eigentlich schon zufrieden warst. Deine Eltern haben dich zerstört, aber du warst gar nicht unglücklich darüber, sagte Barbara. Margot lachte zustimmend. Es könnte gut wahr sein, obwohl ich das fast nicht begreife, sagte sie. Ich habe die Erinnerung, daß ich als Kind unablässig gegen meine
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