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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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zerstört war, dann sollte er wenigstens intelligent sein, so daß echtes Leiden entstand: ein Pechvogel, und dabei so gescheit. Aber Hornung hampelte nur so von Zahlungsbefehl zu Zahlungsbefehl, und wenn es keine Gerichtsvollzieher gegeben hätte, dann hätte er vielleicht selbst nicht gewußt, wieviel Schulden er hatte. In der Mittagspause besänftigte er seine Wunden, indem er sich den Bauch vollaß. Der Boden konnte ihm unter den Füßen wanken, aber wenn er kurz zuvor jemand gefunden hatte, der ihm zwanzig Mark pumpte, war er wieder guter Laune. Abschaffel hatte sich das wirkliche Unglück edler vorgestellt.
    Er hätte sich nur seines Vaters erinnern müssen, um wieder genauer zu wissen, was mit Hornung und all diesen Angestellten los war. Auch Abschaffels Vater war Angestellter gewesen, und es hatte eine Zeit gegeben, in der der Vater behauptet hatte, er werde bald der Leiter der Abteilung sein, in der er arbeitete. Die Mutter war es von ihm seit zwei Jahrzehnten gewohnt, daß er die Lage rosiger darstellte; sie glaubte ihm deshalb auch die Abteilungsleitergeschichte nicht. Jedoch traute sie sich nicht, ihm ihren Unglauben vorzutragen, aber sie fand eine andere Möglichkeit, ihm auf ihre schweigsame Art das Mißtrauen auszusprechen. Und zwar ging sie immer dann, wenn der Vater bei Besuchern und Verwandten die Geschichte von seiner baldigen Ernennung zum Abteilungsleiter erzählte, aus dem Zimmer. Er bemerkte wohl, daß diese Reaktion ihm und seiner verlogenen Art galt, aber er war insgesamt mit der Art der Veröffentlichung ihres Mißtrauens einverstanden. Hauptsache, die Besucher und Verwandten ahnten nicht, daß die Mutter durch ihr Verschwinden bestimmte Phasen seiner Mitteilungen mißbilligte. Die Demütigung, wenn sie intern blieb, wurde von ihm hingenommen. Schwieriger wurde es, als nach drei Jahren ein Abteilungsleiter ganz neu eingestellt wurde. Die Mutter bemerkte, daß der Vater diesen Mann verabscheute, ja verachtete, ohne daß er genauere Gründe für diese Haltung angegeben hätte. Er verschwieg sogar, daß dieser Mann der neue Abteilungsleiter geworden war. Nur aus dem Maß der Abqualifizierung durch den Vater konnte die Mutter ahnen, daß der Vater keine Chance hatte. Der neue Mann sei ein Angeber, ein Nichtskönner, ein Schwätzer, sagte der Vater. In Wirklichkeit war der neue Mann der neue Abteilungsleiter. Nur konnte es der Vater niemals zu Hause sagen. Hätte sich Abschaffel vorstellen können, wie sein Vater reagiert hätte, wenn ihn die Mutter in seinem Büro besucht hätte, um in all den unklaren Ankündigungen und Halbrichtigkeiten des Vaters einmal die Wahrheit herauszufinden, dann hätte er eine Ahnung davon bekommen können, daß die ereignislosen Arbeitsplätze von Angestellten für ihre Frauen Tabus bleiben mußten. Das Büro war der Raum der Erwartungen, die die Angestellten den Personen, Gegenständen und Vorgängen mühsam abphantasieren mußten, und sie hatten ein tiefes Gefühl davon, daß außerhalb des Büros ihre Erwartungen von niemand geteilt wurden.
    Aber Abschaffel lebte allein, und er wußte kaum etwas Lebendiges von den Täuschungen und Verschleierungen, die sich daraus ergaben, wenn ein verheirateter Mann Angestellter war und seiner Frau über Jahre hinweg die Idee vermitteln mußte, auch mit ihm gehe etwas vor. Vor einigen Jahren, als er, wenn auch aus der Ferne, seine Eltern noch beobachtete, hatte er davon mehr gewußt als heute. Die Mutter hatte ihm auch schon manchmal, wenn der Vater schlief, die eine oder andere Enttäuschungsgeschichte über die Laufbahn des Vaters erzählt. Inzwischen hatte er die Eltern fast vergessen. Die Zeit, als er sie aus Rache beobachtete, war endgültig vorbei. Damals befriedigte er sich noch an den Lächerlichkeiten ihres Alters. Er machte ein- oder zweimal im Jahr Anständigkeitsbesuche, und er achtete darauf, daß sie nicht länger als zwei Stunden dauerten. Er tat, als gebe es für seine Eltern eine offizielle Besuchszeit. Sein Vater hatte das merkwürdige Bedürfnis, ihn zu küssen. Aus der zurückhaltenden, ja abweisenden Art, wie sich Abschaffel dabei verhielt, zog der Vater keine Rückschlüsse. Der Sohn berührte scheinhaft mit der Wange die Wange des Vaters, spitzte die Lippen wie zu einem Kuß, und dann, Wange an Wange, küßten beide die Luft, sie ahmten sogar das schmatzende Geräusch mit den Lippen nach, und dann gingen sie auseinander, lachend und irgendwie beglückt, als hätten sie sich wirklich geküßt.
    Hornung

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