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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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wieder. Dieses Verhalten schmälerte Hornungs Ansehen nun doch stark. Die Kollegen waren es schon müde geworden, diejenigen zu sein, die Hornung bewundern sollten. Denn bald galt wieder, daß von einem Angestellten, der so sinnvolle Vorschläge machen konnte wie Hornung, eine Art Gesamtseriosität verlangt wurde. Und weil Hornung diese Seriosität nicht anbot, war es schwer, eine Haltung zu ihm zu finden.
    Er war erst seit drei Monaten in der Firma. Er war achtundzwanzig Jahre alt und röchelte beim Atmen, weil er täglich zwischen sechzig und siebzig Zigaretten rauchte. Hornungs Leben bestand aus sich jagenden Katastrophen, und alle wußten es. Sein Leben war so verworren, daß niemand in der Lage war, den Hauptkonflikt dieser Existenz überhaupt noch ausfindig zu machen. Er war gerade einen Monat in der Firma gewesen, da erschien ein Gerichtsvollzieher und pfändete zweihundertzwanzig Mark von seinem ersten Gehalt. Ajax hatte Hornung zu sich rufen lassen. Die anderen glaubten, da er noch in der Probezeit war, nun würde er fristlos gekündigt. Der Gerichtsvollzieher erhielt das Geld und ging. Genau einen Tag später erschien ein anderer Gerichtsvollzieher und pfändete von Hornungs Gehalt noch einmal hundertunddreißig Mark. Ajax ließ Hornung wieder zu sich kommen, und die Aussprache dauerte länger. Alle rechneten diesmal mit der fristlosen Kündigung. Aber Ajax war klug. Er erkannte in Hornung einen durch Unglück weich gewordenen Angestellten. Ajax lieferte ihm zwar einen Auftritt, der draußen im Großraum teilweise noch zu hören war. Die Sekretärinnen und Schreibkräfte hielten ihre Maschinen an, damit sie Ajax besser verstehen konnten. Aber Hornung kam lächelnd aus dem Chefzimmer. Ajax hatte ihn nicht entlassen, und Hornung gab sich, als hätte er einen Kampf gewonnen.
    Was wirklich geschehen war, drang erst später in die Köpfe der anderen. Ausgelöst wurde das Getuschel von Fräulein Zittel aus der Lohn- und Gehaltsbuchhaltung. Jeder wußte, daß sie zur Schweigsamkeit über die Ereignisse ihrer Abteilung verpflichtet war, aber jeder wußte auch, daß sie überhaupt nicht schweigen konnte, im Gegenteil; das Reden über ihre Arbeit war die Bedingung dafür, daß sie arbeiten konnte. Hornung hatte sich bereit erklären müssen, daß ihm für die kommenden drei Jahre jeden Monat zweihundertsiebzig Mark von seinem Gehalt automatisch weggepfändet wurden. Bei tausendneunhundert brutto, und mehr verdiente Hornung sicher nicht, abzüglich fünfhundert Mark Miete (rund gerechnet: und alle Kollegen rechneten diese Rechnung), blieben Hornung für das Leben zwischen sechs- und siebenhundert Mark. Er war verheiratet und hatte zwei Kinder. Wie er in dieser Lage mit seinem Gehaltsrest über die Runden kam, wußte niemand. Und Hornung hielt durch, Woche für Woche. Er pumpte sich kleine Beträge, auch Abschaffel hatte ihm schon öfter zehn oder zwanzig Mark gegeben. Den meisten war klar, daß sie das Geld nicht mehr zurückerhielten. Hornung wurde immer wieder auf seine kleinen Schulden angesprochen, und es geschah, daß er jemanden, dem er fünfzehn Mark schuldete, fünf Mark Abzahlung leistete von einem neuen Pump, den er erst vor zwei Stunden hinter sich gebracht hatte. Hornung lebte in großer Scham, aber es machte ihm scheinbar nichts aus. Mittags aß er in der Kantine Riesenportionen und verbreitete Stille um sich. Abschaffel beobachtete ihn oft, und er kam sich schon menschlich vor, wenn er seine Beobachtungen nicht weitererzählte. Überhaupt sorgte Hornung dafür, daß sich viele Kollegen edel vorkommen konnten. Es gab nur wenige, die ihn schroff mieden oder mit der Redensart abwiesen: Ich bin kein Kreditinstitut, und Hornungs Stolz bestand darin, daß er niemanden, der ihn einmal abgewiesen hatte, noch einmal anging. Abschaffel konnte sehen, daß sich Hornung den Hosenbund öffnete, wenn er am Schreibtisch saß, weil ihn der Bauch zu sehr drückte. Und er hatte Routine darin entwickelt, den Hosenbund rasch zu schließen, wenn er aufstehen mußte. Auch dieses Detail behielt Abschaffel für sich, weil ihn manchmal, was Hornung anging, Mitleid anfiel; dann glaubte er, er müsse Hornung schützen, und er wollte damit anfangen, indem er keine diskriminierenden Einzelheiten mehr über ihn erzählte.
    Aber Hornung sorgte selbst dafür, daß er im Gespräch blieb. Immerzu war er in neue Klebrigkeiten verwickelt, die die Aufmerksamkeit für ihn neu entfachten. In den letzten beiden Wochen war es öfter vorgekommen,

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