Abschaffel
Maschine nach München oder Hamburg zu transportieren hatten. Die Maschine wurde per Lkw von der auftraggebenden Fabrik abgeholt und in den nächsten Bahnsammeltransport nach München oder Hamburg verladen. Durch die Sammlung vieler Güter mit dem gleichen Bestimmungsbahnhof war es möglich, der Wirtschaft günstige Frachttarife anzubieten. Wenn die Maschine als einzelnes Frachtgut der Bundesbahn übergeben wurde, mußte der Auftraggeber erheblich höhere Frachtkosten zahlen. Hinzu kam, daß die Speditionen schneller arbeiteten als die Bundesbahn. Wer bei Ajax eine Kiste nach München oder Hamburg aufgab, konnte davon ausgehen, daß sie wie ein Brief einen Tag später beim Empfänger war. Die Bundesbahn brauchte dazu mindestens drei Tage, manchmal sogar eine Woche. Die Verkehre nach den großen Städten verließen täglich die Ajaxschen Verladerampen, die nach den mittleren Städten wie Augsburg, Osnabrück oder Saarbrücken hatten einen zwei- bis dreitägigen Abfertigungsrhythmus. Es war Ronselts und Abschaffels Aufgabe, das Gütervolumen der einzelnen Sammelwaggons ständig im Auge zu behalten und die Waggons dann, wenn sie hinreichend Tonnage hatten, verplomben zu lassen, mit der Bundesbahn den Abzugstermin zu vereinbaren und die Versandunterlagen an den Empfangsspediteur am Bestimmungsbahnhof zu verschicken.
Dieser Beschäftigung ging Abschaffel seit dreizehn Jahren nach, und er war noch immer erst einunddreißig Jahre alt. Manchmal glaubte er, den größten Teil seines Lebens schon hinter sich zu haben. Aber dann wurde er von anderen Kollegen wieder als junger Mann bezeichnet! Die Arbeit selbst war ihm so geläufig, daß er mit seinen Gedanken fast ständig abwesend war. Wenn das Betriebsgeschehen seine Aufmerksamkeit erforderte, konnte er sofort umschalten. Er hatte eine Technik entwickelt, die es ihm erlaubte, zweispurig zu leben. Seine Augen sahen nach innen, aber jedermann glaubte, sein Blick sei nach draußen gerichtet. Nur manchmal, wenn seine Augen allzulange absolut still standen, weil er zu lange in seine Kindheit zurückgeblickt hatte, kam es ihm vor, als erblinde er bald. Er sah nichts mehr von dem, was um ihn herum vorging. Alles, was um ihn herum war, erstarrte zu einer Szene, zu einer Fotografie, die ihm ein Fremder auf den Schreibtisch legte und ihn dann fragte: Können Sie mir erklären, warum das Ihre Welt ist? Diese Erklärung blieb Abschaffel ewig schuldig. Immer wieder sah er seine Umgebung wie eine Fotografie, auf der er rätselhafterweise mitabgebildet war. Kannte er diese Leute, seine Kollegen? Er kannte sie nicht. Aber warum war er dann Tag für Tag bei ihnen? Wollte er denn hier sein? Nein, das wollte er nicht. Aber warum war er dann hier? Das war die Frage. Es war gewöhnlich die erste Frage am Beginn einer Leiter, die ihn tief nach unten in sich selbst führte. Es war ein Weg in die Scham der frühen Fehler und Unglücke. Gewöhnlich fing es damit an, daß ihm einfiel, was er sich als Jugendlicher gewünscht hatte. Als Elfjähriger glaubte er, später wie Tarzan leben zu können. Sich von Liane zu Liane schwingen, von Baum zu Baum schweben und sich, wenn er nicht mehr fliegen und schweben wollte, in einer Laubhütte ausruhen, die auf dem Gipfel des höchsten Baums in Form eines Verstecks eingebaut war. Noch bis zu seiner Konfirmation war er überzeugt, Tarzan sei eine Art Beruf, den man übernehmen könne, wenn man das Abitur abgelegt hatte und ein körperlicher Test erfolgreich verlaufen war. In seiner Vorstellung war er einer der ganz wenigen, die diesen phantastischen Beruf ergreifen wollten. Er hatte nicht bemerken können, daß hunderttausende Jungen so sein wollten wie Tarzan. Zu dieser Zeit geschah etwas Phantastisches. Ein Bewohner des Mietshauses, in dem Abschaffel mit seinen Eltern lebte, wanderte nach Australien aus, und für das Kind Abschaffel war der Auswanderer ein Mann, der den Beruf Tarzan ergriff. Der Auswanderer bereitete fast ein Jahr lang seine Abreise vor. Er erhielt Briefe mit unglaublichen Briefmarken. Er schaffte sich besondere Kleidung an, und, das Wichtigste, er bereitete sorgfältig die restlose Auflösung seines kleinen Haushalts vor. Er war entschlossen, nie mehr zurückzukehren. Er verschwand in der Welt, um irgendwo in der Wildnis zu leben. Jawohl, so wurde man Tarzan. Weil es diesen Mann gab und weil er eines Tages wirklich abreiste und nie wiederkam, hatte das Kind Abschaffel Grund, an den Beruf Tarzan zu glauben. Und das Kind bemerkte nicht, daß ihm
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