Abschaffel
arbeitete in der Lagerabteilung. Diese Abteilung rangierte, zusammen mit der Stückgutabteilung und der Registratur, ohnehin als minderwertig, und wer in diesen Abteilungen arbeitete, galt als ebenso minderwertig. Deswegen war es in sich schon widersprüchlich, daß aus einer unbedeutenden Abteilung ein wichtiger Vorschlag kam. Ajax vermietete an mehrere Firmen festen Lagerraum und ließ von seinen Angestellten, nach Ordern der Auftraggeber, den Versand der in seinen Hallen gelagerten Waren abwickeln. Hornung verwaltete die Lagerung und den Versand von Kühlschränken und Papiertaschentüchern. Er hatte nichts anderes zu tun, als an seinem Schreibtisch zu sitzen und die Versandaufträge der Kühlschrank- und Papiertaschentuchfabriken per Telefon anzunehmen und auszuführen. Er notierte sich die Anschrift des neuen Kühlschrankbestellers, stellte einen Frachtbrief mit den entsprechenden Angaben aus und gab den Versandauftrag in Halle B, wo Arbeiter die im Frachtbrief bezeichneten Waren in die richtigen Waggons oder Lkw verluden. Am Monatsende errechnete Hornung den Auftraggebern die entstandenen Lagergebühren, zusätzlich Fracht-, Abfertigungs- und Versicherungskosten.
Hornung litt offenbar kaum darunter, daß er in einer niedrig bewerteten Abteilung arbeitete. Es gab genug Angestellte aus ebenfalls niedrig bewerteten Abteilungen, die den Drang hatten, in die Export- oder Importabteilung zu gelangen. Diese beiden Abteilungen galten als das Höchste, was einem Angestellten bei Ajax möglich war. Wer im Export oder Import war, mußte die Mittlere Reife haben oder doch mindestens ein abgebrochener Gymnasiast sein, damit er ein einigermaßen sicheres Englisch vorweisen konnte. Es gab junge Mädchen und Angestellte mit Volksschulbildung, die das Wort City heute noch wie Kitty aussprachen. So etwas passierte in der Exportabteilung nicht, in der Lagerabteilung schon eher. Abschaffel war zwar ein abgebrochener Gymnasiast und hatte ansehnliche Englischkenntnisse, aber dennoch arbeitete er nicht in den favorisierten Abteilungen. Er wußte selbst nicht warum, und er überlegte auch nicht. Über Schulbildung und Schulerlebnisse wurde unter den Angestellten nicht gesprochen. Zu viele verdankten ihr Leben als Angestellte einem Unglück in der Schule. Sie waren von ihren Eltern mit überschwenglichen Hoffnungen auf das Gymnasium geschickt worden, und irgendwann zwischen Obertertia und Obersekunda versagten ihre Leistungen; einige hatten eine Klasse wiederholt, andere wurden von ihren beleidigten Eltern gleich von der Schule geholt und, wie zur Strafe, zu den anderen in eine Lehre gesteckt wie in einen muffigen Sack, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Es gab bei Ajax nur zwei Angestellte mit Abitur und Studium, das waren seine beiden Referenten; sie gehörten zu den wenigen, die in ihrer Jugend zum richtigen Zeitpunkt Angst gehabt hatten und deswegen zum richtigen Zeitpunkt ihre Lektionen büffelten. Die vielen anderen, Abschaffel eingeschlossen, waren vorher von ihrer Angst verlassen worden, sie verhedderten sich in Phantasien über ihr Leben, die sich immer weiter von der Schule entfernten, bis sie eines Tages von der Schule, die doch eine ganz eng abgesteckte Leistung von ihnen verlangt hatte, ganz abgestoßen wurden. Tausende und Abertausende von Bürokräften hinter Schreibtischen, Schaltern und Theken lebten an ihrem eigenen, langsam verwesenden Schulunglück entlang, von dem sie einst heimgesucht wurden. Ohne die ewig nachrückenden Schulversager ließe sich nirgendwo eine Bürokratie errichten. Sie waren demütig, weil sie die bizarre Tragweite ihres Unglücks noch immer fürchteten, und sie waren schweigsam, weil sie wußten, eine wirkliche Verbesserung ihres Lebens hätte eine Austilgung ihres frühen Schulversagens zur Voraussetzung, und ebendiese Austilgung war für immer unmöglich.
Abschaffel arbeitete in der Abteilung Sammelausgang; dieser Abteilung wurde, ähnlich wie der Buchhaltung, eine mittlere Achtung entgegengebracht. Ihr Personal bestand aus Ronselt, der sich Abteilungsleiter nennen durfte, aus ihm, Abschaffel, der sich stellvertretender Abteilungsleiter oder zweiter Mann nennen durfte, und zwei Lehrlingen. Sie brachten jede Woche damit hin, Bahnsammelverkehre zusammenzustellen, die die Firma nach rund zwei Dutzend großen inländischen Städten unterhielt. Diese Verkehre waren bei der verladenden Wirtschaft gut bekannt. Die Versandleiter der Industrie riefen bei Ronselt und Abschaffel an, wenn sie eine
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