Abscheu
die Augen gelegt, blicke ich zum Stall und suche das Gebüsch ringsum ab. Dann schaue ich hinüber zur Straße, die zwischen Sträuchern und jungen Bäumen hindurch zu unserem Haus führt.
Niemand zu sehen.
14
Natürlich hätte ich bei meiner Mutter ausziehen können. Ich habe ernsthaft daran gedacht. Schließlich waren die Schulden, die Papa erst auf seinem eigenen und in den letzten Jahren im Namen meiner Mutter aufgehäuft hatte, im Grunde ihr Problem und nicht meines. Rein rechtlich hatte ich nichts damit zu tun.
Ich war gerade achtzehn geworden und damit laut Gesetz erwachsen. Mit meiner Vollzeitstelle als Schuhverkäuferin verdiente ich zwar nicht viel, aber genug für eine eigene Wohnung. Die Miete für ein billiges Apartment oder Zimmer hätte ich mir leisten können. Mit einer besser bezahlten Stelle oder einem Nebenjob als Serviererin wäre sogar noch etwas Geld zum Sparen übrig geblieben. Denn eine Lektion hatte ich gründlich gelernt: Ich wollte niemals in eine so missliche Lage wie meine Mutter geraten. Das würde mir nicht passieren.
Aber ich ging nicht fort. Noch nicht. Ich brachte es nicht übers Herz, meine Mutter mit den Rechnungen, Mahnungen und den anderen Problemen allein in der Wohnung zurückzulassen, in der wir gemeinsam so viel durchgemacht und wo wir nur uns gehabt hatten, wenn Papa wieder einmal wochenlang im Ausland unterwegs war und nichts von sich hören ließ.
Mein Vater hatte meine Mutter unzählige Male im Stich gelassen, und zudem hatte ihr ihre Amsterdamer Familie mehr oder weniger den Rücken zurückgekehrt, weil sie Papa nicht leiden konnten.
Meine Mutter war immer für mich da, wenn ich sie brauchte.
Jetzt würde ich für sie da sein.
15
Ich hocke im grellen Neonlicht eines Elektronikladens mit schrillen Reklameschildern vor einem Regal und sehe mir das Ausstellungsstück von allen Seiten an. Ein kleines Sagem mit einer Prepaidkarte in Höhe von zwanzig Euro. Genau das, was ich suche: unauffällig und leicht. Ich kann es problemlos unten in meiner Handtasche mit mir herumtragen.
Ich nehme eine Schachtel aus dem Fach und lege sie in meinen Einkaufskorb. Dann gehe ich weiter an den Regalen entlang und füge noch ein passendes Ladegerät für das Auto hinzu. Vor der Kasse hat sich eine kurze Schlange gebildet. Zu meiner großen Erleichterung ist unter den Wartenden kein Bekannter. Wie eine ausgekochte Verbrecherin zahle ich bar – mit EC -Karte oder Kreditkarte kommt nicht infrage, denn der Posten könnte Harald auffallen, wenn er wieder mal abends die Buchhaltung erledigt.
Im Auto öffne ich die Verpackung, blättere das Handbuch durch und befolge die Anweisungen. SIM -Karte, Batterie, PIN -Code. Ich schließe den Apparat über die Autosteckdose am Ladegerät an und stelle Zeit und Datum ein. Dann speichere ich die einzige Telefonnummer ab, mit der ich über diesen Apparat jemals Kontakt aufnehmen werde.
Alles funktioniert. Und der Akku ist schon fast voll.
Dann steige ich aus, raffe die Verpackungsmaterialien und den Kassenbon zusammen und werfe alles in einen der vielen Container, die an den Parkplätzen hinter dem Einkaufszentrum stehen.
Zurück im Auto, atme ich einmal tief durch. Fertig. Geschafft. Keine vier Stunden, nachdem Chris mich in den Ställen überrumpelt hat, besitze ich mein neues, geheimes Telefon, mit Marius’ Nummer im Programmspeicher.
Obwohl ich sehr wohl weiß, dass ich mir etwas vormache, verleiht mir dieses dumme Stück Plastik dennoch das Gefühl, dass ich wenigstens noch zu einem Teil die Kontrolle behalten habe. Ich kann den Apparat nach Belieben ein- und ausschalten. Alle Telefonate mit Harald und meiner Mutter, der Schule und Freundinnen laufen über mein normales Handy.
Diese Runde geht an mich.
Doch das Lächeln vergeht mir ziemlich schnell, als ich bemerke, wie ich hinter dem Lenkrad sitze und zittere. Ich fühle mich fiebrig, als würde ich krank werden. Mir ist übel.
Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr. In einer halben Stunde muss ich die Kinder von der Schule abholen. Es ist besser, wenn ich Marius jetzt gleich anrufe.
Die Übelkeit verschlimmert sich.
Bedrückt starre ich vor mich hin, zu einem Lkw hinüber, der zwanzig Meter entfernt steht und gerade ausgeladen wird. Zu den jungen Bäumchen, die entlang der Parkplätze gepflanzt wurden und mit Kunststoffschnüren an Pfählen festgezurrt sind. Schließlich lege ich den Kopf gegen die Scheibe und blicke hinauf zum Himmel, der sich über der Glaskuppel des
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