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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Einkaufszentrums wölbt. Blau.
    Ich muss ihn jetzt anrufen. Warten hat keinen Zweck.
    Ich habe Angst.
    Ich lasse den Kopf gegen die Rückenlehne sinken und starre den beigefarbenen Himmel meines Autos an. Dann blicke ich wieder geradeaus. Hole noch einmal tief Luft und halte das Handy fest in der Hand.
    Meine Finger sind ein bisschen klamm, als ich die Tasten drücke und den Apparat ans Ohr halte. Drei Mal ertönt das Freizeichen. Dann ein Klicken.
    »Hallo?«, frage ich. »Marius?«
    »Claire«, antwortet er leise, und ich höre an seiner Stimme, dass er lächelt.
    Der Klang seiner Stimme versetzt mich um zehn Jahre in der Zeit zurück. Plötzlich und unerwartet steigen Bilder in mir auf, Gefühle, Gerüche, Gesprächsfetzen. Musik. Ich weiß plötzlich wieder ganz genau, wieso ich jahrelang an Marius kleben geblieben bin, trotz allem. Es war nicht nur, weil er mich nicht loslassen wollte. Genauso wenig konnte ich ohne ihn leben. Der Song With or without you schien für uns geschrieben zu sein. Er sang ihn für mich, mit seiner kratzigen, trägen Stimme, flüsterte ihn mir zu, im Dunkeln, zwischen raschelnder Bettwäsche. Manchmal auch in seinem Mercedes, im Licht des Armaturenbretts, dann keuchte er mir die Worte ins Ohr, stockende Sätze, im gleichen Rhythmus, in dem er mich nahm.
    Marius liebte Musik. Kannte alle Songtexte auswendig. Er wies mich auf Schlüsselsätze hin und darauf, welchen Bezug sie zu unserem Leben hatten. Zwinkerte mir dabei zu.

    Hörst du das?
    Da geht es um dich.
    Um mich.
    Um uns.
    Marius konnte sehr gut singen. Im Grunde konnte er vieles sehr gut. Was mich jedoch am meisten an ihm anzog, war diese Mischung aus Gefahr und Intimität. Er konnte die grausamsten Dinge sagen, während seine Augen weiterhin lachten, seine Mundwinkel nach oben wiesen. Und ich wusste, dass ich bei ihm sicher war, komme, was da wolle.
    Er genoss das Leben, seine Erfolge und die Art, wie andere auf ihn reagierten – meistens respektvoll oder verhalten neugierig.
    Und er genoss mich.
    Und ich ihn.
    Solange wir zusammen waren, konnte mir nichts geschehen.
    »Zwei Töchter«, sagt er.
    Ich schlucke.
    »Und keine von beiden kann von mir sein.«
    »Nein.«
    »Dann sind sie also von diesem Makler.«
    »Ja.«
    »Ehrlich?«
    »Ja. Ehrlich.«
    Für einen Moment schweigt er. Dann fragt er: »Wie lange ist es her, Claire? Zehn Jahre und zwei Monate?«
    »So ungefähr.«
    Wieder meine ich, ihn lächeln zu hören. Ich vermute, dass die Fältchen um seine Augen ausgeprägter geworden sind. Ob er inzwischen grau ist, ob sich sein Haar allmählich lichtet? Er ist nicht viel jünger als Chris, und dessen militärischer Kurzhaarschnitt war schon ziemlich stark ergraut. Wie wird er sich in den letzten zehn Jahren körperlich verändert haben?
    Warum denke ich darüber nach, wie Marius aussieht?
    Ticke ich noch ganz richtig?
    »Was willst du?«, frage ich.
    »Alte Erinnerungen wachrufen.«
    »Dazu habe ich keine Lust. Ich habe mir ein neues Leben aufgebaut.«
    »Ja, davon habe ich gehört. Ich will mir dir reden.«
    »Du redest bereits mit mir.«
    Wieder dieser gleichsam lächelnde Tonfall in seiner Stimme. »Ich will dich unter vier Augen sprechen, Muschi.«
    Muschi. Plötzlich bricht mir der Schweiß aus. Es ist nur ein Wort, sage ich mir. Nur ein Wort.

    Ja, Muschi.
    Auf die Knie.
    »Ich möchte nicht, dass du mich so nennst.«
    »Wie denn dann?«, fragt er scherzhaft.
    Ich lasse mich nicht dazu verleiten, das Wort auszusprechen.
    Wieder höre ich ihn lachen. »Willst du denn gar nicht wissen, wo ich bin?«
    »Nein.«
    »Ich bin auf einem Boot. Tolles Ding. Eine Motoryacht.«
    »Schön für dich.«
    »Sie gehört nicht mir. Ich habe sie mir ausgeborgt. Schön, zu wissen, dass man überhaupt noch Freunde hat, wenn man so lange eingesperrt war.«
    Er schweigt, und ich sage ebenfalls nichts. Die Botschaft ist angekommen.
    »Möchtest du nicht wissen, wo das Boot liegt, Muschi?«
    Ich zucke innerlich zusammen.

    Es tut nur am Anfang ein bisschen weh, Muschi.
    Diese eine Stelle da … ja, das da … das gehört mir.
    Niemand anderem, Muschi.
    Dir und mir.
    Uns.
    »Und?«
    »Nein, Marius, es interessiert mich nicht, wo dein Boot liegt.«
    »Hier sieht es aus wie auf einem Gemälde von Anton Pieck«, fährt er ungestört fort, als hätte es die zehn Jahre Trennung nie gegeben und als hätten wir gestern zum letzten Mal miteinander geredet. »Eine kleine Ziehbrücke, alte Häuser, Mühlen. Ein richtiges Scheißbilderbuch … Ein reizender

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