Abscheu
Hafen. Wirklich. Sehr reizend. Warte, ich geh mal nach draußen …«
Ich höre seine Schritte auf einer Treppe oder einem Holzboden, knarrende Dielen, seinen Atem.
»Weißt du, was ich sehe, wenn ich oben auf dem Deck stehe? Eine Art kleines Grachtenhaus mit einer glänzend grün lackierten Tür und einem Kupferschriftzug auf der Fassade. Also, du weißt genug, oder?«
Unwillkürlich schließe ich die Augen. Marius befindet sich auf einem Boot im Binnenhafen der alten Festungsstadt, keine zehn Minuten von unserem Haus entfernt. Er blickt auf die Fassade von Ravelin Immobilien.
»Ich will, dass du herkommst.«
»Du weißt, dass das nicht geht«, erwidere ich heiser.
»Nein, das weiß ich nicht. Erklär’s mir.«
»Ich kenne die halbe Stadt. Und man kennt mich.«
»Welche Stadt meinst du?«
»Die, in der du gerade bist, Marius. Von Ravelin Immobilien aus hat man Ausblick auf den Hafen. Außerdem liegen ringsum viele Restaurants und Cafés …«
»Ja, und?« Seine Stimme klingt schon etwas weniger vertraulich und freundlich. »Hast du deinen neuen Bekannten etwa nichts von mir erzählt?«
Mir fehlen die Worte. Natürlich weiß keiner auch nur ansatzweise von meiner Vergangenheit. Schon gar nicht Harald.
»Das solltest du vielleicht besser nachholen«, fährt er fort, »denn ich liege hier sicher noch eine Weile vor Anker. Stimmt, es gibt ein paar gute Restaurants. Ist zwar alles ein bisschen snobistisch, aber ansonsten gefällt es mir sehr gut.«
»Sie wissen nichts, Marius«, zische ich. »Nicht das Geringste. Und das soll auch so bleiben.«
»Äh … und dieser … wie heißt er gleich wieder? Dein Makler? Harald van Santfoort?« Er spricht den Namen spöttisch aus, mit einem lächerlich hochnäsigen Tonfall, als sei das Ganze ein Riesenwitz. »Was weiß er von mir?«
»Nichts«, fiepe ich.
Er schnalzt mit der Zunge. »Ein Grund mehr, dafür zu sorgen, dass du so schnell wie möglich deinen Hintern hierherbewegst.«
»Nein, nicht dahin«, erwidere ich. »Könntest du nicht woandershin fahren? Ich habe wirklich keine …«
»Red keinen Scheiß, Claire! Komm morgen Abend in den Hafen. Um halb neun. Und lass mich nicht warten, denn das hasse ich wie die Pest!«
Ein kurzes Schweigen tritt ein. Ich hatte damit gerechnet, dass er die Verbindung unterbrechen würde. Aber das tut er nicht. Die Sekunden ticken vorbei.
»Morgen früh«, stoße ich plötzlich hervor. »Morgen früh um halb zehn.«
Ehe er protestieren kann, beende ich das Gespräch. Und nicht nur das: Ich drücke auch mit dem Daumen auf die rote Ausschalttaste. Dann stecke ich das Telefon weg, ganz unten in meine Handtasche. Ziehe energisch den Reißverschluss zu. Ich starre das mit Fell abgesetzte Leder an, als sei es eine Zeitbombe, deren Zeitschaltuhr soeben angesprungen ist und jetzt die Sekunden bis zur Explosion herunterzählt.
Als ich zittrig und nervös den Parkplatz verlasse, wird mir klar, dass dieser Vergleich vermutlich nicht einmal so abwegig ist.
16
»Harald, Liebling, es ist halb zwölf. Ich gehe ins Bett, kommst du auch gleich?«
Mein Mann sitzt in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch. Schon den ganzen Abend. Auf seinem Laptop sehe ich die Seite der Rabobank, und vor ihm auf der glänzend polierten Wurzelholzoberfläche stapeln sich Rechnungen und Briefe.
Als ich Harald kennenlernte, fand ich schon ziemlich bald heraus, dass er in jeder Hinsicht nach festen Mustern handelt. Harald ist ein Planer. Ein Abend pro Woche ist für die Buchhaltung reserviert. Dann kontrolliert er Bankkonten und Abbuchungen, erledigt Überweisungen und heftet Schreiben ab. An solchen Abenden ist keine Kommunikation mit ihm möglich, und ich störe ihn dann lieber nicht.
Es hat eine Weile gedauert, bis ich mir die einzigartige Gebrauchsanleitung für Harald in ihren Grundzügen angeeignet hatte. Außerhalb seines Arbeitszimmers ist er ein leidenschaftlicher, sanftmütiger und sympathischer Mensch. Doch innerhalb dieser mit hellem Holz verkleideten Höhle verwandelt er sich in einen verbissenen Buchhalter. So einen, der die Mappen nach Farben ordnet, alles in alphabetischer Reihenfolge abheftet und sich über Unregelmäßigkeiten bei Zahlen hinter dem Komma ereifert.
Zu Anfang unserer Beziehung habe ich mich hin und wieder darüber aufgeregt. Ich fand diese Eigenschaft an ihm ziemlich unerotisch und wollte einfach nicht glauben, dass dieser Mann von Welt, dieser charismatische Baum von einem Mann so erbsenzählerisch sein konnte.
Kein anderer
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