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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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Sand zu stecken.
    Ich steige ins Auto, lasse den Motor an und drücke auf die Fernbedienung für das Eingangstor, das sich langsam öffnet. Erst am Ende der Straße hole ich das Marius-Handy aus meiner Manteltasche, schalte es ein und lege es zwischen meine Beine auf den Sitz.
    Die Deckbettjacke liegt im Auto, fest zusammengerollt in Marius’ Sporttasche, zusammen mit dem Hut, dem Halstuch und den Gesundheitsschuhen. Ich muss versuchen, noch bevor ich die Stadt erreiche, ein stilles Fleckchen zu finden, wo ich schnell und ungesehen den Mantel anziehen und den Hut aufsetzen kann.
    Ich habe die Sporttasche absichtlich nicht weggeworfen. Bei näherer Überlegung erschien es mir besser, sie im Auto stehen zu lassen und darin meine Verkleidung aufzubewahren. Sollte Harald die Sachen in meinem Auto finden und mir Fragen stellen, werde ich ihm mit unbewegtem Gesicht erzählen, dass sowohl die Tasche als auch die Kleidung in der Schule liegen geblieben sind. Dass die Direktion sie wegwerfen wollte, ich es aber sinnvoller fand, sie zu einer Kleidersammelstelle zu bringen.
    Fast glaube ich schon selbst daran.
    Als ich kurz vor der Schrägseilbrücke vor einer roten Ampel halten muss, fängt das Handy plötzlich an zu summen. Das Zittern dringt durch meine Haut und meine Muskeln, fast als würde Marius selbst mich berühren.
    Wütend ziehe ich den Apparat zwischen meinen Schenkeln hervor und drücke auf »Neue Nachrichten«.

    Gut so, MUschi!
    »Arschloch«, sage ich laut. »Dreckiges, fieses Arschloch. Ich wünschte, du wärst tot.«

Fünf
    Fassadenarchitektur – Von Fassadenarchitektur spricht man, wenn die (Prunk-)Fassade bei dem Entwurf eines Gebäudes eine entscheidende Rolle spielt. Von innen ist das Gebäude in der Regel viel schlichter, als die Fassade vermuten lässt.
    Ich mag zwar buchstäblich auf einer Art Insel leben und Claire und ich können so tun, als gäbe es die Welt um uns herum nicht und als spiele sie keine Rolle – in meinem Beruf existieren solche Inseln nicht. In der Maklerbranche hängt der Erfolg von den richtigen Kontakten ab. Man muss dafür sorgen, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und mit den richtigen Leuten zu reden, und natürlich stehen den ganzen Tag über sowohl die sozialen als auch die geschäftlichen Antennen auf Empfang. Wenn man es richtig anstellt, erfährt man auf diese Weise ein wenig früher von einem anstehenden Verkauf als die Konkurrenten und kann ihnen dadurch zuvorkommen. Ich lasse mich daher an vielen Orten sehen, auch wenn ich dort scheinbar nichts zu suchen habe.
    Heutzutage brauche ich mich nicht mehr so sehr anzustrengen wie früher. Wenn bei uns in der Gegend eine Vernissage stattfindet, ein Empfang oder was für ein Ereignis auch immer, bei dem die Leute mit Geld, Geschmack und hohen Ansprüchen zu finden sind, stehe ich stets auf der Gästeliste. Für mein Geschäft sind diese Art von Einladungen lebenswichtig.
    Ich habe an allen Fronten hart gearbeitet, um auf diesen Gästelisten zu landen und mir diesen Grad von Respekt zu verdienen.
    Als mein Vater noch lebte, habe ich ihn selbstverständlich zu allen Partys und Empfängen begleitet. Das gehörte zu meiner Ausbildung, die mein Vater sehr ernst nahm. Nach seinem Tod kühlten diese Beziehungen jedoch in einem beunruhigend schnellen Tempo ab. Ich war noch sehr jung, stand plötzlich allein da, und ich vermute, dass die Leute erst einmal abwarten wollten. Abwarten, wie lange es dauern würde, bis dieses emporgekommene Reicheleutesöhnchen, das nicht mal einen Universitätsabschluss geschafft hatte, die Firma seines Vaters und Großvaters in den Sand gesetzt hatte.
    In einer idealen Welt stehen immer Menschen bereit, um einen aufzufangen, aber bei uns in der Gegend konnte ich lange nach einem Sicherheitsnetz suchen. Nein, man wollte mich lieber fallen sehen, so hart und gnadenlos wie möglich. Viele hätten sich vielleicht sogar darüber gefreut. Dieser Eindruck ist mir unauslöschlich im Gedächtnis geblieben.
    Mein Vater war fachlich und menschlich sehr stark präsent, niemand kam um ihn herum. Ich kann nicht ausschließen, dass er hier und da jemandem empfindlich auf die Füße getreten ist und manchen in seiner Persönlichkeit gekränkt hat. Was also wäre eine schönere Genugtuung gewesen, als seinen einzigen Sohn hoffnungslos versagen zu sehen? Claire schärft mir immer ein, dass ich so nicht denken darf. Sie findet, dass ich alles viel zu schwarzsehe, und hat sich sogar schon einmal offen gefragt, ob

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