Abscheu
Richtige für sie.«
»Hast du ihr es immer noch nicht erzählt?«
»Ich möchte noch ein bisschen warten, wenigstens, bis wir mit dem Bau begonnen haben. Ich möchte nicht, dass sie sich erst freut und dann womöglich enttäuscht wird.« Ich wandere mit dem Daumen an seinem Rückgrat hinunter und massiere die Muskeln auf beiden Seiten.
Harald brummt leise, legt den Kopf in den Nacken und sucht meinen Blick. »Wenn die Kinder im Bett liegen«, sagt er mit gedämpfter Stimme »kannst du dich mir mal ernsthaft widmen, Schatz.«
Ich lache leise und gebe ihm einen Kuss auf die Nase. Dann sehe ich mich nach Fleur und Charlotte um.
Die eine liegt auf dem Sofa, die andere davor. Sie sehen sich einen Zeichentrickfilm im Fernsehen an, ganz leise. Meine Töchter wissen, dass ich nicht möchte, dass sie sich nach dem Abendessen noch Zeichentrickfilme ansehen, die sie zu sehr aufregen. Aber wenn ich auch nur einen Augenblick nicht aufpasse, nutzen sie die Gelegenheit sofort aus.
»Fleur, Charlotte?«, sage ich mit einigermaßen autoritärem Tonfall. »Jetzt wird aber umgeschaltet, okay? Das reicht für heute.«
Keine Reaktion aus der Sitzecke.
Harald steht auf und sagt mit lauter Stimme: »Meine Damen? Hört auf eure Mutter. Ich will sowieso gleich die Nachrichten sehen.«
Jetzt ertönen schwache Proteste, aber sie schalten brav um auf einen öffentlichen Sender.
Fünf Minuten später sitzen Fleur und Charlotte auf dem Sofa an Harald gekuschelt, der seine zweite Tasse Kaffee trinkt und die Nachrichten für seine Töchter kommentiert.
Ich schleiche hinter ihnen vorbei in die Diele, meine Tasche fest an mich gedrückt. Das Marius-Handy ist den ganzen Nachmittag über ausgeschaltet gewesen. Wie nutzlos und trivial dieses kleine bisschen Widerstand auch sein mag, ich fühle mich besser dabei. Jedenfalls etwas weniger schlecht. Ich will unter keinen Umständen Marius’ Marionette sein.
Ich hole das Handy aus meiner Tasche und gehe damit auf die Toilette. Hinter mir schließe ich ab und schalte dann den Apparat ein. Ich gebe den PIN -Code ein und setze mich auf die Toilettenbrille. Dann starre ich schweigend das Display an. Während des Wartens nage ich winzige Hautfetzen von meiner Unterlippe ab.
Es dauert eine Ewigkeit, bis das Handy beim Provider angemeldet ist und alles richtig arbeitet. Und dann beginnt es prompt, giftig zu summen.
Beinahe lasse ich es fallen.
Zwei neue Nachrichten.
Die erste stammt von heute Nachmittag um halb fünf. Ich drücke auf »Anzeigen«. Auf dem Display steht:
Komm her
Ich drücke die Nachricht weg und öffne die zweite. Sie stammt von sieben Uhr, ist also noch keine Stunde alt:
SOFORT
Sieht aus, als sei er sauer. Als ich auf seine erste Nachricht nicht reagiert habe, hat er sich bestimmt in seine Wut hineingesteigert. Zweieinhalb Stunden lang.
Beunruhigt straffe ich den Rücken und spitze die Ohren. Aus dem Wohnzimmer höre ich nichts Ungewöhnliches. Der Fernseher läuft immer noch, und Harald sagt irgendetwas zu den Kindern. Seine Stimme klingt gedämpft durch die Türen der Toilette und des Wohnzimmers. Auch draußen scheint alles ruhig zu sein. Ich habe schon seit einer Ewigkeit keine Autos mehr vorbeifahren hören.
Schnell tippe ich eine Antwort, ein bisschen zittrig:
Sorry, habe deine Nachricht gerade
erst gelesen.
Kann jetzt nicht. Ende der Woche?
Mir wird klar, dass meine Nachricht tatsächlich eine doppelte Bedeutung hat. Ich kann jetzt nicht einfach meine Familie allein lassen, und ich kann nicht aus der Toilette raus, solange ich Marius nicht beruhigt habe.
Ich warte. Eine Minute.
Zwei.
Vier.
Ich lege das Handy vor meine Füße und starre es wieder an. Dann blicke ich geradeaus auf den Geburtstagskalender, der an der Tür hängt. Er stammt von Ravelin und zeigt Fotos der zwölf schönsten Häuser, die Harald je verkauft hat. Der Juni trägt das Bild einer freistehenden Villa, die von einem Architekten der Schule von den Bosch entworfen wurde, der einzigen »modernen« architektonischen Strömung, die Harald schätzt. Unter dem Foto stehen in Fleurs Kinderhandschrift die Namen derer, die diesen Monat Geburtstag haben. In zwei Wochen feiern wir Charlottes Geburtstag. Dann wird sie sechs, wieder ein Jahr näher an dem Mindestalter für das Erlernen der Zauberkunst.
Mein Handy summt und tanzt vibrierend auf dem Natursteinfußboden. Ich hebe es auf und lese die Nachricht.
SCHWACHSINN.
Im Hafen. bIS gleich
Ich weiß nicht, ob ich erleichtert oder noch
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