Abscheu
eine Plastiktüte mit Wäsche.
Früher habe ich für Marius die Wäsche gewaschen. Wenn er mich besuchen kam, kochte ich für ihn, deckte den Tisch, räumte ab, kochte Kaffee, mixte ihm seinen Bacardi-Cola, ließ ihm ein heißes Bad ein. Schnitt und feilte ihm die Nägel. Massierte ihm den Rücken, die Schultern, den Nacken, die Füße …
Ich tat es gern. Diesen starken Mann zu verwöhnen, war meine schönste Belohnung. Ich fühlte mich gut dabei.
An dieses Gefühl kann ich mich momentan jedoch kaum erinnern. Während ich seinen Schritten und seinem undeutlichen Murmeln lausche, werde ich von Sekunde zu Sekunde ungeduldiger. Ich muss mich sehr zusammenreißen, um nicht laut loszuschreien. Er weiß doch, wie schwierig es für mich ist, hierherzukommen – er muss es wissen – , aber es interessiert ihn keinen Deut.
Ich lasse mich wieder in das weiche, u-förmige Sofa sinken und schlage die Beine übereinander. Bedrückt starre ich durch die ovalen Bullaugen hinaus. Viel ist nicht zu sehen: die Unterseite des Anlegestegs, auf der sich allerlei moosige Wasserpflanzen festgesetzt haben, und gräuliches Flusswasser, das gegen die Stegpfähle und den Kai schwappt.
In einer plötzlichen Anwandlung drehe ich mich auf die Knie und fange an, alle Gardinen vor den zum Fluss hin gelegenen Fenstern aufzuziehen. Weiches Abendlicht fällt herein. Die »Esmeralda« ist das letzte Boot am Steg, und die kleinen Fenster bieten eine fast ungehinderte Aussicht über die Maas, die an dieser Stelle so breit ist wie ein See. Am anderen Ufer liegt der Deich, über den ich gerade eben noch gefahren bin, der Abschnitt zwischen der Fähre und der Schrägseilbrücke.
Ich kneife die Augen zusammen und suche nach bekannten Orientierungspunkten. Schon bald fallen mir die drei gleich großen, dicht beieinander wachsenden Bäume auf. Sie stehen nicht weit von unserem Haus entfernt. Auf der rechten Seite dieser Baumreihe kann man vom Deich aus hinunterfahren. Die Straße beschreibt eine Kurve und führt direkt in unser Dorf hinein.
Der Deich liegt still da. Ich sehe nur eine Fahrradfahrerin. Neben dem Rad läuft ein heller Windhund her, mit raumgreifenden, eleganten Schritten. Aus dieser Entfernung sind nur die Umrisse des Tieres erkennbar, aber seine Gestalt und seine Bewegungen hätte ich unter Tausenden wiedererkannt. Sein Frauchen hat auffällige, flammend orangefarbene Haare. Sie sitzt leicht vornübergebeugt auf dem Sattel und tritt kräftig in die Pedale. Es ist Ellen, eine Künstlerin von der Insel. Sie lebt mit ihrem Hund, einigen Ziegen und Katzen zusammen in einem Herrenhaus neben dem Schloss und gibt Malstunden.
Während ich sie betrachte, wird mir klar, dass dieser Liegeplatz kein Zufall ist. Kein Zufall sein kann. Von hier aus kann Marius morgens Harald den Deich herauffahren sehen und ihm folgen, bis er die Schrägseilbrücke fast erreicht hat. Zehn, fünfzehn Minuten später kann er mich an derselben Stelle auftauchen sehen, mit Fleur und Charlotte auf dem Rücksitz, unterwegs zur Schule, die in der entgegengesetzten Richtung liegt. Marius braucht praktisch nicht mal aus dem Bett aufzustehen, um unsere Familie zu bespitzeln, um zu wissen, ob Harald und ich zu Hause sind.
Bestimmt liegt hier irgendwo ein Fernglas.
Rasch wende ich den Blick von den Fenstern ab, als Marius die Treppe hinunterkommt und die Kajüte betritt. Unwillkürlich ziehe ich meine Strickjacke enger um mich zusammen.
Marius bemerkt sofort die geöffneten Gardinen, sagt aber nichts dazu. Dann zieht er seine Trainingsjacke aus, hängt sie an einen Haken an der Wand neben der Treppe und geht hinüber zur Einbauküche. Sein schneeweißes Polohemd spannt um die Oberarme. Es ist etwas zu klein, steht ihm aber gut. Zu gut.
»Tut mir leid«, murmelt er, »ein dringender Anruf. Möchtest du etwas trinken?«
»Nein.«
»Bestimmt nicht?« Kurz treffen sich unsere Blicke, und in diesem Moment wird mir klar, dass ich nicht möchte, dass er tot ist. Ich wünschte nur, meine Gefühle für ihn wären erloschen. Aber das sind sie nicht. Im Gegenteil. Sie sind springlebendig und blubbern durch mein Blut wie Kohlensäurebläschen, die umeinanderwirbeln, aufgeregt flüstern, kichern und mich sorglos ermuntern, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen.
»Ich habe keinen Durst«, sage ich dickköpfig.
Marius öffnet einen Einbaukühlschrank und nimmt eine Dose Cola heraus. Er setzt sich mir gegenüber auf das andere Ende des Sofas, zieht die Büchsenlasche auf, setzt
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