Abscheu
unheimlich. Außerdem dauert es mindestens eine Viertelstunde, ehe ich, halb stolpernd, halb schleichend, das Filetiermesser mit einer Hand umklammernd, den stockdunklen Außenreitplatz erreicht habe.
Am dunklen Wegesrand haben Werwölfe gelauert, Geister sind aus dem sumpfigen Boden hinter dem Grundstück der Nachbarn aufgestiegen und schwarze Schatten vor mir vorbeigeschwebt, hysterisch kichernd oder freudlos schweigend. Doch all diese beängstigenden Dämonen haben mich nicht so sehr geängstigt wie der Mann aus Fleisch und Blut, der sich da irgendwo in den Ställen bei den Pferden herumtreiben muss.
In der relativen Sicherheit der Küche dachte ich noch, dass ich wenig zu befürchten hätte, doch von dieser anfänglichen Heldenhaftigkeit ist nichts mehr übrig. In meiner Fantasie haben Chris’ Grausamkeit und Verrücktheit unmenschliche Proportionen angenommen. Was weiß ich eigentlich von ihm? Ich habe ihn zehn Jahre lang nicht gesehen, und das letzte Treffen war eine regelrechte Hölle gewesen, ein wake-up-call unangenehmster Art. Chris ist einer der Gründe, warum ich mein altes Leben weit hinter mir lassen wollte.
Er könnte sich in der Zwischenzeit durchaus zum Serienmörder entwickelt haben. Vielleicht hat er den unglücklichen Hühnern und Kaninchen Lebewohl gesagt und sich ein neues Hobby zugelegt, nämlich das Aufschlitzen von zweiunddreißigjährigen Müttern, die so unfassbar dumm sind, sich nachts allein hinauszuwagen.
Auf dem Weg hierher habe ich mein Pferd noch zweimal wiehern hören. Auch die Ponystute hat sich gemeldet, hoch und schrill, wie es typisch für sie ist. Jetzt ist es schon seit einer ganzen Weile ruhig.
Vielleicht ist da niemand mehr.
Vielleicht sind die Pferde schon tot.
Ich stehe mit dem Rücken an der Stallwand und zittere am ganzen Leib. Das Herz klopft mir bis zum Hals, und das Blut rauscht in meinen Ohren. Der Metallgriff des Messers ist ganz glitschig. Ich wische die Hand an meinem Mantel ab und umklammere dann wieder meine Waffe.
Wenn mich jetzt jemand mit einem Scheinwerfer anstrahlen würde, sähe ich bestimmt aus wie eine Figur aus einem Horrorfilm, so eine Gestalt, von der man bereits in den ersten zehn Minuten weiß, dass sie ein böses Ende nehmen wird.
Meine Haut und mein dünnes Kleid sind feucht vom Tau und vom Schweiß, und das Fußbett meiner Slipper ist auf den letzten Metern nass und glitschig geworden, sodass das Laufen in ihnen schwerfällt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals solche Angst gehabt zu haben.
Ich hätte nicht herkommen dürfen, sagt der Feigling in mir. Ich hätte einfach noch eine Schlaftablette nehmen und Stöpsel in die Ohren stecken können. Ich hätte in Kauf nehmen können, dass der Stall bis auf die Grundmauern abbrennt und die Pferde gefoltert und abgeschlachtet werden …
Zittrig lehne ich an dem rauen, gebeizten Holz, schlucke einen Kloß in der Kehle hinunter, raffe das letzte Quäntchen Mut zusammen und gehe weiter bis an die Ecke. Die rechte Stalltür müsste eigentlich offen stehen. Ich habe sie im Schlafzimmer gegen die Wand schlagen hören. Wenn sie geschlossen ist, so beschließe ich spontan, werde ich den Stall nicht betreten, sondern sofort umkehren. Morgen früh werde ich dann schon sehen, ob die Tiere noch am Leben sind.
Von hier aus kann ich wenig erkennen, da die Seite, an der sich die Stalltüren befinden, in tiefe Dunkelheit gehüllt ist. Es herrscht eine bemerkenswerte Stille, abgesehen von dem Quaken eines einsamen Froschs und dem geheimnisvollen Rauschen der Pappeln.
Ich gehe einen Schritt nach vorn, dann noch einen.
Als ich den Schatten hinter mir bemerke, ist es schon zu spät, um zu reagieren. Mein Schrei wird von einer Männerhand erstickt, die sich blitzschnell über meinen Mund und meine Nase legt und meine Wangen fest zusammenquetscht. Vor Schreck bin ich wie gelähmt, das Messer fällt mir aus der Hand und ich höre es klappernd auf das Pflaster auftreffen.
Mein Angreifer zerrt mich zur Stalltür, als sei ich eine lebensgroße Stoffpuppe. Es scheint ihn kaum anzustrengen. Ich verliere einen Schuh. Mit aller Macht versuche ich, mich loszureißen, aber der Mann lässt sich nicht beirren.
In ein paar Augenblicken sind wir im Stall. Dort bleibt er stehen, die eine Hand weiterhin über meinen Mund gelegt, sodass ich kaum Luft bekomme. Meinen Hinterkopf hält er gegen seine Brust gedrückt, die hart ist wie Stahlbeton. Mit einem Arm hält er meinen Oberkörper und meine Oberarme in einem eisernen
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