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Abscheu

Abscheu

Titel: Abscheu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Esther Verhoef
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fort.
    »Gestern?«
    »Und vorgestern. Eben dachte ich: Wenn ich ein bisschen Krach mache, ob sie dann kommt?«
    »Oder ob sie ihren Mann rausschickt, bewaffnet mit einer doppelläufigen Jagdflinte? Oder ob sie einfach die Polizei ruft?«
    Ich sehe es nicht, höre aber an seiner Stimme, dass er lächelt. »Na klar.«
    »Das hätte ich wirklich tun können.«
    »Du hast es aber nicht getan«, entgegnet er. »Denn du wolltest das Risiko nicht eingehen, dass man in deinem eigenen Garten auf einen lebendigen Beweis für deine dunkle Vergangenheit stößt, nicht wahr? Und übrigens, solange ich nicht mit Hunden, Hubschraubern und Suchscheinwerfern verfolgt werde, lasse ich mich nicht so schnell ins Bockshorn jagen.«
    Das ist wieder der Marius, wie ich ihn kenne. »Stimmt, das befürchte ich auch.«
    »Ich finde deine neue Aussprache übrigens sehr charmant.« Er nimmt meine Hand und fängt an, sie gedankenverloren zu streicheln. »Das hatte ich ganz vergessen, dir auf dem Boot zu sagen. Ich hatte keine Gelegenheit dazu. Du hast dich verändert. Von Grund auf verändert, nicht nur in deiner Sprechweise.« Ich kann mich irren, aber ich meine, seine Stimme klingt weicher, fast sogar gefühlvoll. Er schweigt, und ich weiß auch nicht, was ich sagen soll.
    »Du bist erwachsener geworden«, flüstert er. »Reifer und schöner. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Du bist jetzt eher eine schöne Frau als ein hübsches Mädchen, verstehst du? Ich meine – zehn Jahre sind eine lange Zeit. Ich hätte wissen müssen, dass dein Leben weitergegangen ist. Das habe ich mir nicht wirklich klargemacht. Jedenfalls nicht ausreichend.« Er wendet den Blick von mir ab und fährt fort. »Vielleicht wollte ich es auch gar nicht wissen.«
    Marius’ Worte treffen mich. Er zeigt sich sensibel für seine Verhältnisse, und das ist eine Seltenheit.
    »Weißt du noch, wie ich früher manchmal für dich gesungen habe? Dieses Stück von U2, With or without you ?«
    »Natürlich weiß ich das noch.«
    Er stößt einen kurzen Seufzer aus. »Ich habe ein neues Lied für dich, vielleicht kennst du es. Ein Portugiese, mit dem ich zusammen in der Zelle gesessen habe, hatte Liebeskummer und war ganz versessen darauf.«
    »Welches Lied?«, höre ich mich fragen.
    Unmerklich hat sich Marius mir genähert. Er hält jetzt meine beiden Hände. Wärmt sie in seinen. Seine Haut fühlt sich rau und trocken an, und seine leichten Berührungen lösen mehr in mir aus, als ich mir eingestehen will.
    »Ich musste dabei immer an dich denken. Dass du so weit weg warst, dass ich nicht bei dir sein konnte, all das. Darüber grübelt man unwillkürlich nach, wenn man tagein, tagaus eine kahle Wand und einen schluchzenden Portugiesen anstarrt. Ich bin da oben bei diesen Scheißnorwegern durch eine verdammte Hölle gegangen. Aber dieses Stück … Ich hatte mir vorgenommen, es dir vorzusingen, sobald ich auf freiem Fuß sein würde. Diese Vorstellung hat mir über die schwersten Zeiten hinweggeholfen.« Er lässt meine Hände los, nimmt mich in die Arme und legt mir seine Hände auf den unteren Rücken. »Willst du mich jetzt wieder treten?«
    »Nein«, flüstere ich.
    Er zieht mich an sich, und ich lasse es geschehen. Sein Körper ist heiß wie ein Ofen. Ich zittere und bebe vor Aufregung.
    Er neigt sich nach vorn und singt halblaut in mein Ohr: » You can tell by the way she walks that she’s my girl.« Seine Stimme lässt mich alles andere als kalt, das hat sie nie getan. Sie ist ein wenig rau, sonor und nicht ganz rein, auf eine Art, die unglaublich sexy klingt. Ich spüre seinen Körper an meinem, mir wird schwindelig, und ich habe das Gefühl zu schweben.
    »… And then she’d say, it’s okay, I got lost on the way, but I’m a supergirl, and supergirls don’t cry …«
    Marius hätte Sänger werden können, ein sehr guter sogar. Aber er hat eine andere Richtung eingeschlagen, einen gefährlichen Weg quer durch feindliches Gebiet, und ich bin auf der sicheren Seite geblieben.
    Er hört auf zu singen und legt die Wange an meine Schläfe. »Schön?«
    »Wunderschön.«
    »Bevor ich weggehe, musst du mir etwas verraten, Claire. Du musst ehrlich zu mir sein, das musst du mir versprechen. Wirklich ehrlich … Warte.« Er lässt mich los und entfernt sich von mir. Ich höre ihn rumoren, und dann wird es auf einmal hell.
    Ich blinzele und lege eine Hand über die Augen. Das Licht stammt von einer kleinen Sturmlampe. Sie steht auf dem Metallschrank, in dem ich das Putzzeug

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