Abscheu
»Luxuria« bei einem Escort-Service arbeitete. Damals war Jean Thomas noch ein ziemlich unbekannter Beigeordneter.
Während ich Kaffee für Harald einschenke und danach ein zweites Cognacglas aus dem Schrank hole, wird mir klar, dass hierin ein gravierender Unterschied zwischen Harald und Marius besteht.
Vor Marius hatte ich keinerlei Geheimnisse. Mit ihm konnte ich über alles reden. Wären wir zusammengeblieben, hätten wir jetzt feixend auf dem Sofa gesessen und uns über Jean Thomas und sein scheinheiliges Gesülze lustig gemacht.
In diesem Leben kehre ich jedoch ins Wohnzimmer zurück und serviere meinem Mann Kaffee und Armagnac. Schweigend.
33
Ich brauche nicht im Geringsten nervös zu sein, mit einer solchen Situation werde ich problemlos fertig. Wie oft habe ich so etwas professionell abgehandelt, mühelos, ohne dass der fragliche Mann auch nur das Geringste von meinem Desinteresse merkte? Ich habe nicht nachgezählt, es müssen Hunderte Male gewesen sein. Vortäuschen. So tun als ob. Vier Jahre lang war das mein Job, und ich darf wohl behaupten, dass ich gut darin war.
Marius wird mich heute Abend nicht aus der Fassung bringen, ich lasse ihn einfach nicht nahe genug an mich heran. Er bekommt meinen Körper. Den darf er berühren und nehmen, und was er sonst noch damit tun will, damit es ihm besser geht, damit er diesen für ihn so notwendigen Abschied hinter sich bringen kann. Notfalls erzähle ich ihm, was er hören will, voller Hingabe und mit feuchten Augen. Aber an mein Herz, meine Seele, meine Gefühle, an die kommt er nicht heran. Das habe ich mir auf dem Weg zum Hafen immer wieder vorgenommen: An diesen Abschied werde ich so distanziert herangehen wie damals an meine Arbeit. Zwar erhalte ich diesmal als Lohn für meine Dienste kein Geld, aber dafür etwas wesentlich Wertvolleres: Ich bekomme mein eigenes Leben zurück. Frieden für mich und meine Familie.
Doch mein Plan war von vornherein zum Scheitern verurteilt. In den letzten Tagen habe ich fast ununterbrochen an ihn gedacht, und bevor ich losfuhr, habe ich viel mehr Mühe in meine Körperpflege und meine Kleidung investiert, als in meiner Lage vernünftig gewesen wäre.
Marius ist nun einmal kein namenloser Freier.
Er hat ein Radio eingeschaltet. Es läuft ein Stück von Samantha James, Rise , das die Atmosphäre schwüler Nachtclubs, heißer, erregender Sommerabende und verschwitzter Körper hervorruft. Vielleicht kommt die leise Musik aus der Schlafkabine auch gar nicht aus dem Radio, sondern er hat sie sorgfältig ausgewählt.
»Schicke Schuhe. Hübscher Rock.« Langsam wandert sein Blick über meine Beine und dann wieder hinauf. »Kein BH .«
»Nein«, bestätige ich leise.
»Und sonst?«
»Gar nichts.«
Er schnalzt mit der Zunge. »Sehr gut.« Dann zieht er sein T-Shirt über den Kopf und wirft es auf den Boden. So bleibt er stehen, in seiner umwerfenden Männlichkeit, nur mit einer ausgeblichenen, hautengen Jeans bekleidet. Auf der Innenseite eines Unterarms hat er eine Tätowierung, die ich noch nicht kenne. Ein Name oder ein Wort, sorgfältig mit grauer Tinte in einer unleserlichen Frakturschrift gestochen.
»Soll ich dich massieren?« Meine Stimme klingt hoch und dünn, weil ich wahnsinnig nervös bin, viel nervöser als erwartet, und jetzt, da so eine merkwürdige Distanz zwischen uns herrscht, fühle ich mich noch unbehaglicher.
Langsam schüttelt er den Kopf, ohne den Blick von mir abzuwenden. »Das sollten wir überspringen. Komm mal her.«
Ich gehe zu ihm hin. Als ich ihn fast erreicht habe, bleibe ich stehen. Meine Arme hängen locker herunter. Ich warte ab.
Ziemlich abrupt zieht er das elastische Oberteil meines Tops in der Mitte auseinander und entblößt meine Brüste. Ein Anflug von Panik durchzuckt mich. Als er sie zum letzten Mal gesehen hat, waren sie jung und fest, im Grunde noch gar nicht voll ausgeformt. Ich konnte Kunden zum Schweigen bringen, indem ich sie ihnen nur zeigte. Wie unsicher ich auch bei tausenderlei anderen Punkten sein mochte, im Hinblick auf meinen Körper war ich immer sehr selbstsicher und habe das weidlich ausgenutzt. Bis heute.
Reglos bleibt er mitten in der Kajüte stehen, die Beine leicht gespreizt. Er lässt den Blick über meine Brüste wandern und betrachtet sie genau.
Ich atme schneller und straffe den Rücken. Mein Körper ist um zehn Jahre gealtert. Ich habe zwei Kinder ausgetragen, geboren und gestillt. Meine Brüste sind nicht mehr so voll, sie hängen sogar ein
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