Abscheu
durch. Ungeduldig kaut er auf der Trense und reißt an den Zügeln. »Entschuldige, ich kann heute einfach nicht. Ich höre wohl besser auf.«
»Was ist denn los?« Sie streichelt Humboldt über den Nasenrücken, eine Geste, die mich unwillkürlich an Marius erinnert, der Humboldt heute Nacht genauso gestreichelt hat.
»Ich möchte für heute lieber aufhören. Mir geht’s nicht gut. Alles dreht sich um mich. Guck mal …« Demonstrativ strecke ich die Hand aus. Sie zittert. »Bestimmt steckt mir etwas in den Knochen, vielleicht eine Grippe.«
»Wenn du krank bist, solltest du nicht reiten.« Ihr Blick sagt mir, was sie in Wirklichkeit darüber denkt. Wahrscheinlich hat sie noch mit vierzig Grad Fieber Spitzenleistungen erbracht. »Brauchst du Hilfe beim Absatteln?«
»Nein, danke, das schaffe ich schon allein.« Ich schwinge mein rechtes Bein über Humboldts Kruppe und lasse mich zittrig zu Boden rutschen.
Nach einem kühlen Abschied verlässt sie den Platz und überquert das Pflaster vor dem Stall in Richtung Straße.
In diesem Moment bricht die Sonne durch die Wolkendecke, und ich sehe auf dem Boden an der Stallmauer etwas glänzen. Ich brauche nicht genauer nachzusehen, um zu wissen, dass es mein Filetiermesser ist.
32
Harald zappt durch die Sender und bleibt an einer Talkshow hängen – eine Klatschsendung, würde meine Mutter sagen, und ich würde ihr sicher nicht widersprechen. Er hat die Beine seitlich angewinkelt auf das Sofa gezogen und die obersten Hemdknöpfe geöffnet, sodass man seine dunklen Brusthaare sieht. Viele hat er nicht, aber sein gutes Aussehen als Mann ist ihm wichtig, und daher trimmt er alle Haare einmal pro Monat auf akzeptable Länge herunter. Das ist einer seiner Vorzüge: Er nimmt seine Körperpflege ernst.
Meine Gedanken wandern ab zu Marius. Er ist in vieler Hinsicht Haralds Gegenpol, aber ich erkenne auch Gemeinsamkeiten. Wie grob Marius auch war und zweifellos noch ist, so legt er doch großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres – es grenzt schon an Fanatismus.
Ich gebe mir die größte Mühe, nicht die ganze Zeit an Marius zu denken, aber es ist, als würde dadurch alles nur noch schlimmer. In den letzten Tagen habe ich ihn und Harald andauernd miteinander verglichen, bis hin zu den trivialsten Eigenschaften, und ich frage mich, wie mein Leben ausgesehen hätte, wenn Marius nicht vor zehn Jahren in ein norwegisches Gefängnis gewandert wäre.
Wären wir dann immer noch ein Paar? Vielleicht sogar verheiratet?
Hätte ich Kinder von ihm?
Kinder, von Marius? Schon die Vorstellung allein …
Aber wenn mir jemand vor Jahren prophezeit hätte, dass ich jeden Abend mit meinem Mann vor dem Fernseher hängen würde – natürlich erst, nachdem ich die Spülmaschine eingeräumt, die Kinder ins Bett gebracht und für das leibliche Wohl meines Mannes gesorgt habe –, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Dennoch sieht so jetzt mein alltägliches Leben aus.
Im Fernsehen sitzen Männer in Anzügen rund um einen ovalen Tisch und diskutieren miteinander. Sie machen einen gelangweilten, routinierten Eindruck. Das Wort hat Jean Thomas, ein Staatssekretär mit stechenden Augen und einem Seitenscheitel. Er wird von einem Fernsehjournalisten interviewt.
Ich presse die Lippen zusammen und frage dann: »Gibt es nichts anderes außer Politik?«
»Ich möchte das wirklich gerne sehen«, murmelt Harald und trinkt einen Schluck von seinem Kaffee. »Der Mann hat ziemlich gute Ideen, und er macht einen integeren Eindruck.«
Ich blicke auf meine Hände und drehe an meinem Trauring. Weil ich Angst habe, etwas Unvernünftiges zu sagen, wenn ich sitzen bleibe, stehe ich vom Sofa auf und räume die Tassen ab. »Möchtest du noch Kaffee?«
»Ja, gerne. Koffeinfrei, bitte. Trinkst du auch einen kleinen Armagnac mit?«
Während ich in die Küche gehe, höre ich Jean Thomas hinter mir sagen, dass er sich für die Wiedereinführung der Sonntagsruhe einsetzen möchte. Er spricht ruhig, wählt sorgfältig seine Worte und besitzt offenbar den festen Willen, das Land und seine verrohten Bürger wieder zurück in die calvinistische Zeit um 1950 zu schleifen.
Ich frage mich, ob er immer noch jeden Mittwochabend eine Prostituierte bestellt, weil ihn seine Frau nicht oral befriedigen will, oder ob er, weil er jetzt regelmäßig im Fernsehen auftritt und sein Bekanntheitsgrad zunimmt, das nur noch anonym im Ausland wagt. Jedenfalls war er ein guter, fester Kunde von Natascha, als sie noch neben dem
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