Abschied aus deinem Schatten
Rowena durchaus für denkbar. Aber Selbsttötung? Auf keinen Fall!
Normalerweise hätte die Fahrt vom Stadtzentrum bis zum Haus in Norwalk zwanzig Minuten gedauert. An diesem Tag bewältigte Rowena die Strecke in zwölf Minuten. Im vollen Bewusstsein, dass sie jeden Moment von der Polizei angehalten werden konnte, raste sie die Interstate 95 entlang, im Kopf bereits ein vorbereitetes Sprüchlein für die Beamten – man habe sie soeben vom Tod ihrer Schwester verständigt. Allerdings fuhr alle Welt wie üblich schneller als erlaubt, und weit und breit war kein Streifenwagen zu sehen.
Als sie sich dem Haus näherte, fiel ihr bereits die Ansammlung von Einsatzfahrzeugen auf, die kreuz und quer vor dem Haus parkten, Rettungswagen der Feuerwehr, Krankenwagen und Streifenwagen, dazu ein paar neugierige Nachbarn, die das Geschehen über die Gartenhecke hinweg beobachteten. All das bewies, was sie bislang mit aller Macht zu verdrängen versucht hatte: Claudia war offenbar tatsächlich tot.
Die Haustür stand offen, und Rowena hielt auf der Schwelle inne, den Blick auf die im Foyer hin und her laufenden Uniformierten sowie auf Ian gerichtet, der mit gesenktem Kopf dastand und ein Gespräch mit einem Polizeibeamten führte. Ian Hodges, stets tadellos gekleidet, war ein attraktiver Mann, groß gewachsen und schlank, mit einem interessanten Gesicht – intelligente, tief liegende braune Augen, lange Nase, der Mund ziemlich dünn, energisches Kinn. Dennoch kam er ihr auf merkwürdige Weise geschlechtslos vor, wie es nach ihrer Auffassung nur bestimmte britische Männer sein konnten. Eine Zeit lang hatte sie sich gefragt, ob er möglicherweise schwul war, dann aber relativ früh für sich beschlossen, er sei einfach bloß neutral. Wäre er ein Land gewesen, dann wohl am ehesten die Schweiz: ansprechend, adrett, charmant, doch unparteiisch.
Rowena fühlte sich benommen und irgendwie fehl am Platz, als stünde sie hinter einer dicken Glasscheibe, die sämtliche Geräusche dämpfte und alles verzerrte, was sich auf der anderen Seite befand.
Jetzt schaute Ian auf, entdeckte sie, und für einen langen, bedeutungsschwangeren Moment trafen sich ihre Blicke. Dann kam er zu ihr herüber und murmelte, als sie ihn umarmte: „Es tut mir schrecklich Leid, Rowena. Das ist alles ganz entsetzlich.”
Sonderbar! Ein paar dutzend Mal schon war sie im Laufe der Jahre diesem Mann begegnet, den sie mit seinem festen Händedruck und seinem zurückhaltenden Lächeln bislang stets für das Musterbeispiel britischer Nüchternheit gehalten hatte. Nun zeigte er sich dermaßen erschüttert, dass er die üblichen Formalitäten beiseite ließ und sich mit körperlichen Gesten ausdrückte. So wie bei einer Beerdigung, bei der sich die Menschen besonders häufig umarmten. Rowena erinnerte sich noch daran, wie sie selbst und Claudia zwölf Jahre zuvor bei der Trauerfeier anlässlich der Beisetzung ihrer Mutter von jedermann in den Arm genommen worden war. Selbst zuvor eher zurückhaltende Bekannte, sowohl ihre eigenen als auch Freunde ihrer Mutter, vermochten sich kaum noch zusammenhängend zu äußern und verließen sich daher auf die Körpersprache, um ihre Betroffenheit mitzuteilen. Die meisten
Menschen, die Jeanne Graham gekannt hatten, hatten sie gemocht, abgesehen von denen, die mit ihr hatten leben müssen – so wie Claudia. Was die Schwester für ihrer beider Mutter empfunden hatte, das konnte Rowena nicht mit Bestimmtheit sagen. Claudias wahre Gefühle – falls sie überhaupt welche hegte – lagen unter so vielen Schichten aufgesetzter Künstlichkeit verborgen, dass sie sich nur selten wahrnehmen ließen.
„Sind Sie die Schwester?” fragte einer der Beamten, als Rowena sich aus Ians Umarmung löste.
Sie nickte. Es schien, als habe sich ihr Denken und Fühlen in eine träge, schwammige Masse verwandelt.
„Mr…. hm … Hodges hat die Tote zwar bereits identifiziert. Trotzdem – macht es Ihnen vielleicht etwas aus …?”
Allmächtiger! Sie zuckte entsetzt zusammen. Und ob es ihr etwas ausmachte! Sie wollte ihre jüngere Schwester nicht tot, nicht als vermeintliches Selbstmordopfer sehen! Doch erneut reagierte ihr Körper nach eigenem Gutdünken und folgte dem uniformierten Beamten die mit Teppichboden belegte Treppe hinauf zur Schlafzimmersuite. Das Entsetzen raubte ihr fast den Atem; die Beine wurden ihr schwer. Stets hatte sie nichts weiter als ein gemächliches Leben und ihre Ruhe haben wollen. Illusionen hatte sie sich nie
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