Abschied aus deinem Schatten
Interesse an allem und jedem, falls es nur jemandem gehörte, den sie für minderwertig hielt (wobei sie jedermann für minderwertig hielt und nichts dabei fand, sich an den Mann oder Geliebten einer engen Freundin heranzumachen), ihr Drang danach, jeden auf ihre Seite zu ziehen, den sie ihrer Aufmerksamkeit für würdig genug erachtete, nur um beizeiten die Unwürdigkeit eben dieser Person beweisen zu können, indem sie sie vor aller Augen bloßstellte. Die Liste war lang.
„Handelt es sich um Ihre Schwester?” hörte Rowena den Beamten fragen.
Sie nickte und sagte mit trockenem Mund: „Ja.”
„Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein bisschen näher zu kommen?”
Allerdings, das macht mir sehr wohl etwas aus!
Sie ging ein paar Schritte, blieb stehen und sah nun Claudias Gesicht von der Seite, das ihr grausig bleich vorkam. Der Polizist beobachtete sie und runzelte leicht die Stirn, weil er wohl erwartete, dass sie bis an das Bett treten würde. Womöglich hielt er auch ein gewisses Maß an Trauer für angebracht. Doch mehr als Bestürzung konnte sie nicht zeigen, und mehr als Fassungslosigkeit fühlte sie nicht. „Gibt es einen Abschiedsbrief?” wollte sie wissen.
„Falls ja, dann haben wir keinen gefunden.” Er schaute fragend auf Claudia herab, als könnte er nicht verstehen, dass eine so schöne Frau tatsächlich tot sein sollte. „Aber das Rezept war auf sie ausgestellt. Das Medikament hat sie erst vor einer Woche auffüllen lassen.” Er wies auf das Nachttischchen, auf dem ein leeres Plastikfläschchen sowie eine Flasche Chivas Regal nebst Whiskyglas standen. „Keinerlei Anzeichen für etwaige Ungereimtheiten. Wir warten trotzdem ab, bis der Mann von der Pathologie eintrifft. Der wird die Todesursache feststellen oder eine Obduktion anordnen. Nur Sie beide?”
Sprachlos und außer Stande, den Blick vom Rücken ihrer Schwester abzuwenden, nahm Rowena die Frage zwar auf, konnte sie jedoch nicht in den richtigen Zusammenhang bringen. Claudia und Chivas Regal? Rowena konnte die bizarre Kombination überhaupt nicht zu Ende denken, weil die Fragen des Beamten sie durcheinander brachten. Dann begriff sie. „So ist es. Ich bin ihre ältere Schwester. Wir hatten noch einen Bruder.” Ihr Mund schien sich plötzlich von allein zu bewegen. „Aber der ist schon vor langer Zeit gestorben.” Die Worte versiegten, und der Schmerz über jenen Verlust stieg wieder in ihr auf – echter Schmerz über einen wirklichen Verlust, selbst nach so vielen Jahren noch.
Für sie waren Mutter und Schwester wie Figuren aus einem Zeichentrickfilm gewesen – zu groß für die Art von ruhiger Realität, nach der sie immer gestrebt hatte. Schon von klein auf hatte sie geglaubt, sie sei in die falsche Familie geboren. Cary war all dem früh entkommen. Wahrscheinlich wäre niemand auf die Idee gekommen, etwas Gutes darin zu sehen, dass ein Elfjähriger durch Ertrinken ums Leben kam, doch für ihn galt das vielleicht durchaus, denn er war viel zu sanft und gutmütig gewesen, als dass er unbeschadet an Leib und Seele hätte überleben können. Als Mädchen, anlässlich Carys Beisetzung in steifes, schwarzes Serge gekleidet, hatte Rowena ihren Bruder um das Glück beneidet, dass ihm diese Flucht gelungen war. In gewisser Weise hatte sie damals bereits geahnt, dass ihr dieses Glück nie vergönnt sein würde.
„Wir müssen auf den Pathologen warten”, wiederholte der Polizist und weckte Rowena, die auf Claudias reglosen Rücken blickte, aus ihrer Starre auf. „Ihr Bekannter hat wohl Kaffee gemacht”, sagte er, als sie am oberen Treppenabsatz ankamen. Er ließ Rowena den Vortritt.
Welcher Bekannte? fragte sie sich verwirrt, ehe sie begriff, dass er Ian meinte. Und mit einem Mal bemerkte sie den Kaffeeduft und folgte, mit den Beamten direkt auf den Fersen, dem heimeligen, unwiderstehlichen Aroma bis zur Küche.
Entschuldigend hob Ian die Schultern und sagte: „Schien mir irgendwie angebracht.” Er wies auf die Kaffeemaschine. „Möchten Sie eine Tasse, Rowena?”
„Ja, bitte.” Sie ließ sich an dem Tisch mit der Marmorplatte nieder. Plötzlich fröstelte sie, als sie ihr feuchtes Haar hinten am Nacken spürte. „Rauchen Sie noch, Ian?”
„Hätten Sie gern eine Zigarette?” Er griff in die Tasche und zog eine Schachtel importierter Silk Cut 100 und ein Einwegfeuerzeug heraus.
„Danke!” Sie nahm die Zigarette entgegen und ließ sich Feuer geben. Gleich beim ersten Zug wurde ihr schwindlig im Kopf; sie blieb
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