Abschied aus deinem Schatten
auch ganz sicher? Immerhin ist das alles keine schöne Geschichte. Wenn Sie mal die Zeit haben und sich alles durch den Kopf gehen lassen …”
„Ich habe sie mir den größten Teil meines Lebens durch den Kopf gehen lassen. Was Sie mir erzählt haben, entspricht zwar nicht ganz meinen Erwartungen, deckt sich aber mit der Aussage von Tony Reid. Mir liegt viel daran zu wissen, dass Claudia nie Selbstmord begangen hätte. Das Ganze war ein Unglücksfall. Damit kann ich leben.”
„Damals hatte ich den Eindruck, dass ihr Tod Sie zwar nicht unbeeindruckt ließ”, sagte er. „Nur … sonderlich tief getroffen kamen Sie mir nicht vor.”
„Offen gesagt ging es mir ähnlich wie Ihnen. Ich war froh, dass es vorbei war. Zeitlebens hatte ich einerseits Angst vor meiner Schwester, war aber andererseits von ihr fasziniert, und dazu zornig auf meine Mutter, weil sie ihr alles durchgehen ließ. Einiges habe ich verdrängt, anderes schlichweg ignoriert. Jetzt ist es vorbei. Ich habe die Antworten, nach denen ich suchte. Vermutlich werden Ihnen die Artikel in dem Umschlag dort ebenfalls einige Erklärungen geben. Es ist spät. Wir sollten nach Hause fahren. Hinter uns beiden liegen schlimme sechs Monate. Wir sollten die Sache begraben und unser Leben weiterleben.”
Ian stand auf. „Meinen Sie, das lässt sich so einfach vergessen?” fragte er zweifelnd.
„Jedenfalls werde ich mein Möglichstes tun!” Auch sie erhob sich und ließ den Blick langsam durch das Lokal schweifen. „Sehen Sie, Ian, das Restaurant war immer schon mein Traum.”
„Wie bitte?”
„Jedes kleine bisschen, bis hin zur Farbgestaltung und den Vasen mit Schnittblumen. Ursprünglich wollte ich nach dem Tod meiner Mutter mein bescheidenes Erbteil dafür verwenden. Ich hatte die Räumlichkeiten sogar schon besichtigt. Als ich drei Tage später die Maklerin anrief, um ihr mitzuteilen, dass ich die Sache in Angriff nehmen wollte, eröffnete sie mir, es sei mir ein Konkurrent zuvorgekommen.” Ihr Blick schweifte zu Ians Gesicht zurück. Sie lächelte wehmütig. „Während des Empfangs nach der Beerdigung meiner Mutter muss Claudia ein Gespräch mitgehört haben, in dem ich Penny über mein Vorhaben informierte. Als dann das Lokal eröffnet war und sich zu einem Schlager entwickelte, sagte meine Schwester zu mir: ‚Du hättest das sowieso nicht hingekriegt, Ro. Das Format hast du gar nicht.‘“ Rowena schüttelte den Kopf. „Aber damit lag sie daneben. Ich habe durchaus Format, in jeder Hinsicht.”
„Allerdings.”
„Sie fragen, ob ich es vergessen kann? Da können Sie Gift drauf nehmen!” Rowena stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Ian auf die Wange. „Und Sie vergessen es auch! Aber nun lassen Sie uns aufbrechen. Ich bin für morgen mit Tony zu einem Segeltörn verabredet. Da muss ich ausgeruht sein.”
„Feiner Kerl, der Doc”, sagte er anerkennend. „Ich bringe Sie noch zum Wagen.”
Rowena wartete auf der Veranda, bis er die Alarmanlage eingestellt und den Hinterausgang abgeschlossen hatte. Die Luft war kühl, der Himmel sehr klar.
„Prima Segelwetter für morgen”, bemerkte er, als sie sich Richtung Parkplatz begaben.
Am Honda angekommen, wartete Ian, bis sie die Tür aufgeschlossen und sich hinters Steuer gesetzt hatte. Dann bückte er sich und schaute, da sie die Scheibe heruntergelassen hatte, ins Wageninnere. „Und dass Sie mir ja den Sicherheitsgurt anlegen!”
„Aber gewiss doch!”
„Und nochmals vielen Dank für alles! Mir ist eine Zentnerlast von der Seele gefallen.”
„Mir auch, Ian.”
„Sehe ich Sie am Montag zum Dienst?”
„Mit Sicherheit!” Lächelnd legte Rowena den Gang ein und fuhr nach Hause.
– ENDE –
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