Abschied aus deinem Schatten
stritt sich mit ihr, wie sie es als kleines Mädchen getan hatten – wobei Claudia hartnäckig auf ihrem Standpunkt beharrte und vor keinerlei persönlichem Angriff zurückschreckte, sei er auch noch so brutal und grausam, nur um zu siegen. Und wie immer gewann Claudia auch. Mit Logik war sie nicht zu bezwingen, denn die ließ sie nicht zu. Es wäre das Gleiche gewesen, eine Naturgewalt zur Vernunft bringen zu wollen – ein Ding der Unmöglichkeit.
Fünf, sechs, sieben Mal im Laufe der Nacht stand Rowena auf, lief in der Wohnung auf und ab und hätte dabei einiges für eine Zigarette gegeben. Gähnend und mit tränenfeuchten Augen legte sie sich wieder ins Bett, verzweifelt bemüht, endlich Schlaf zu finden. Doch vierzig Minuten später war sie erneut hellwach. In ihrer Verzweiflung kam es ihr vor, als wolle die Nacht niemals enden. Schließlich, um kurz vor sechs, gab sie es auf und ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Während er durchlief, versuchte Rowena aufzuschreiben, was sie als Nächstes tun musste, doch sie saß nur da, starrte, an ihrem Stift kauend, ins Leere und fragte sich, wieso sie sich durch Ian von der Obduktion hatte abbringen lassen. Möglicherweise sträubte sie sich ja in Wirklichkeit ganz bewusst gegen den Gedanken, dass Claudia tatsächlich selbst ihrem Leben ein Ende gesetzt und dabei die Vorgehensweise als nebensächlich betrachtet hatte.
Rowena legte den Stift hin und ging zurück ins Schlafzimmer, um ihr schwarzes Kleid zu begutachten. Nach Tims Beerdigung hatte sie versäumt, es zur Reinigung zu bringen, doch jetzt sah sie, dass es nur gebügelt werden musste. Zurück in der Küche, schenkte sie sich eine Tasse Kaffee ein, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte und nahm sich den Inhalt des Ordners mit der Aufschrift „Wichtige Dokumente” vor.
Typisch für Claudia enthielt der Ordner Papiere, die zur Sicherheit entweder in ein Bankschließfach oder in die Obhut eines Anwalts gehörten – der Fahrzeugbrief für den Benz, die Eigentumsurkunden für das „Le Rendezvous” und für das Haus, Versicherungspolicen, private als auch geschäftliche, sowie eine Fotografie, die Rowena seit vielen Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte. Sie ging damit ins Wohnzimmer, um das Bild im Licht der Deckenleuchte genauer betrachten zu können.
Die Fotografie zeigte George und Jeanne an dem alten Picknicktisch aus Rotholz. Cary saß zwischen den Eltern, während Rowena auf dem Schoß des Vaters und Claudia auf dem der Mutter thronte; alle lächelten in die Kamera. Rowena konnte sich noch an die Hitze von damals erinnern und daran, dass ein Profi-Fotograf die Aufnahme gemacht und die Familie sich für das Bild in Positur gesetzt hatte. Sie selbst war fünf gewesen, Cary acht und Claudia fast drei. Hochsommer war es gewesen, das Gras dicht, die Blumen in voller Blüte, die Sonne brennend heiß.
Das Familienporträt stand im krassen Gegensatz zu späteren Eindrücken, die nun plötzlich auf Rowena einstürmten: Bilder von Jeanne in einem Cocktailkleid aus gelbem Chiffon, mit einem Martiniglas in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand; ihr rauchiges, kehliges Lachen, während ein Haus voller Gäste ihr hingebungsvoll lauschte; Bilder von Claudia, damals 23, die gerade auf der fahrbaren Trage aus dem OP gerollt wurde, einen kleinen, zeltartigen Metallschutz über der soeben begradigten Nase, blaue Flecken oberhalb der künstlich hervorgehobenen Wangenknochen, vergrößerte Brüste unter dem Krankenhaushemd – mit Schmerzen zwar, doch geradezu übertrieben euphorisch, die Mutter geflissentlich ignorierend und sich an die Hand ihrer Schwester klammernd, bevor sie wieder hinüber in den Narkosetiefschlaf glitt; Bilder von Cary in seinem winzigen Segelboot, die Sonne im Hintergrund, die Silhouette des Jungen beim Ritt auf den Wellenkronen, eine winkende Hand zum Gruß an die Schwester erhoben.
Damals, so schien es, herrschte im Garten auf ewig Sommer, und nach außen hin traten sie wie eine richtige Familie auf. Jetzt, beinahe fünfunddreißig Jahre später, war es draußen erbärmlich kalt; Streifen in düster-grauen Schattierungen furchten den Himmel, nasskalte Schauer prasselten hart gegen die Fensterscheibe. Ihr Vater, George Graham, der seit langem verschollen war, ruhte vermutlich längst im Grab; Cary und Jeanne waren nicht mehr, und nun weilte auch Claudia nicht mehr unter den Lebenden – jenes pausbäckige, schelmische kleine Mädchen mit dem ansteckenden, perlenden Lachen
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