Abschied aus deinem Schatten
und den Goldlöckchen. Man hatte es, in einen schwarzen Vinylsack gehüllt, die Treppe des alten Elternhauses hinuntergetragen. Was, in aller Welt, war bloß mit ihnen allen passiert? Wie kam es, dass alles ein so schlimmes Ende nehmen musste?
Vorausgesetzt, es ruhte nicht irgendwo in einem Bankschließfach ein Testament neueren Datums, hatte Claudia ihren gesamten Besitz ihrer Schwester vermacht und diese außerdem als Begünstigte für eine Lebensversicherung über eine Versicherungssumme von einer Viertelmillion Dollar eingesetzt.
Heißt das etwa, dass ich dir doch nicht egal war? Hast du auch geglaubt, wir könnten mal als Tattergreisinnen tatsächlich Versöhnung feiern? Waren all deine Spiele nur ein ermüdender und komplizierter Zeitvertreib, dessen hässliche Nebenwirkungen nicht in deiner Absicht lagen? Wolltest du all das vielleicht dadurch ausdrücken, indem du mich als deine Alleinerbin bestimmtest? Oder hattest du außer mir sonst niemanden mehr, der überhaupt noch mit dir reden wollte?
Rowena hätte zu gern geglaubt, dass es in ihrem und Claudias Leben mehr Verbindendes gab als nur den Zufall, als Schwestern geboren worden zu sein. Daran lag ihr unendlich viel. In letzter Zeit allerdings waren Anzeichen für ein solches verbindendes Element außerordentlich rar und letztlich sogar nicht vorhanden gewesen. Mit den Jahren zur Vorsicht neigend, hatte Rowena gelernt, sich zu schützen, ohne die Verbindung gänzlich abreißen zu lassen.
Erschöpft, verwirrt, den Blick auf das Familienbild aus alten Zeiten gerichtet, war ihr plötzlich, als krampfe sich ihr das Herz zusammen, und sie brach in Tränen aus.
3. KAPITEL
T rotz der nächtlichen Schlafstörungen stand Rowena es durch. Mit ihren engen Freunden Penny und Mark an der Seite nahm sie am Montag und Dienstag die Beileidsbekundungen entgegen, sowohl von zahlreichen Fremden, hauptsächlich Männern, als auch von ihren und Claudias Bekannten aus Kindertagen. Dazu kamen die betagten Freundinnen ihrer Mutter, von denen sich bereits eine ganze Reihe langsam und würdevoll auf einen Gehstock oder Gehhilfen gestützt vorwärts bewegte. Die Mienen starr und düster, stellten sie als Einzige offen und unverblümt die Frage nach der Ursache von Claudias Tod.
Rowena nahm es mit der Wahrheit nicht so genau und teilte ihnen mit, ihre Schwester sei an einer versehentlichen Überdosis von Schlaftabletten und Alkohol verstorben. Traurig schüttelten die alten Damen ihre Köpfe, erinnerten sich voller Wehmut an die Familie Graham aus alten Zeiten und ließen sich dann steif auf den Kirchenbänken nieder. Sie rührten Rowena zutiefst, diese Frauen, und nach Beginn des Requiems konnte sie sich der Tränen nicht erwehren, so sehr quälte sie sich mit unerklärlichem Kummer und mit Gewissensbissen, weil sie Claudias letztem Wunsch nicht entsprochen hatte. Zwar ging jedermann von einer Einäscherung aus, doch in Wirklichkeit sollten Claudias sterbliche Überreste im Familiengrab beigesetzt werden. Da Rowena die Begleitumstände beim Tod ihrer Schwester zunehmend verdächtig vorkamen, wollte sie sich die Option einer eventuellen späteren Autopsie vorbehalten.
Ihr Verdacht gründete sich nicht allein auf die Flasche Chivas Regal oder die Tatsache, dass ihre Schwester vollständig bekleidet im Bett aufgefunden worden war. Nein, ihr Misstrauen hatte vielmehr damit zu tun, dass sie einen besonders ausgeprägten und über die Jahre perfektionierten Sinn für das besaß, was Claudia tun oder lassen würde. In diesem Zusammenhang erinnerte sie sich an eine unappetitliche Angelegenheit, die als typisches Beispiel für das gelten konnte, was ihrer Schwester tatsächlich zuzutrauen war.
Vor etwa zehn Jahren hatte Claudia eines Abends Ende Juni bei Rowena angerufen und sich erkundigt, welche Pläne sie, falls überhaupt, für ihren dreißigsten Geburtstag gemacht habe. Rowena hatte mit leichtem Unbehagen eingeräumt, sie habe noch nichts geplant. Hörbar entzückt, hatte Claudia daraufhin ausgerufen: „Na großartig! Aber du weißt doch, das ist ein besonderer Geburtstag, die Drei vor der Null! Wie wäre es, wenn wir zwei am Samstag einen Einkaufsbummel machen würden? Als Geschenk darfst du dir etwas aussuchen, und dann gehen wir ganz schick essen! Wir sehen uns ja kaum noch, Ro! Komm, gib mir keinen Korb!”
Man mochte Claudia ja alles Mögliche vorwerfen, doch für eine Überraschung war sie stets gut. Daher hatte die Einladung für Rowena durchaus ihren Reiz, und sie hatte
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