Abschied aus deinem Schatten
sie später noch Penny und Mark anrufen musste. Die beiden Freunde würden ihr bestimmt helfen, dies alles zu überstehen.
„Ich müsste schnell rüber zum Restaurant und ins Reservierungsbuch schauen, damit ich die Gäste anrufen und die Buchungen für heute Abend stornieren kann”, sagte Ian und hob mit fragendem Blick die Kaffeekanne in die Höhe.
„Für mich keinen mehr, danke. Aber lassen Sie sich bitte nicht aufhalten. Ich warte noch auf die Leute vom Beerdigungsinstitut und fahre dann nach Stamford zurück.”
„Es eilt nicht. Ich leiste Ihnen bis dahin Gesellschaft.”
„Was ist denn mit Tony Reid?” fragte Rowena, der plötzlich Claudias Geliebter einfiel, ein Psychiater.
„Ich hatte den Eindruck, dass zwischen den beiden nichts mehr lief”, sagte Ian vorsichtig, offensichtlich ein wenig peinlich berührt.
„Aber …” Sie stockte. Das letzte Gespräch mit ihrer Schwester lag drei Wochen zurück, und wenn sie sich recht entsann, hatte Claudia damals Reid noch erwähnt. Doch vielleicht hatte sie auch während einer anderen Unterhaltung von ihm gesprochen. In Rowenas Kopf ging vieles durcheinander; Fakten und Gedanken wirbelten in ihrem Gehirn herum wie Wäsche in einem Wäschetrockner. Sie verfolgte das Thema nicht weiter. „Claudia hat Ihnen fünfundzwanzigtausend Dollar hinterlassen. Überrascht Sie das?”
„Nein.” Mit undurchsichtiger Miene fuhr er fort: „Sie erwähnte es mal, doch ich habe es nicht ernst genommen. Sie sagte viel, wenn der Tag lang war. Meist war es nur Show.”
Vielleicht hatte er die wirkliche Claudia gekannt.
Beide verfielen in Schweigen, und Rowena überlegte, was sie mit dem Haus und dem Restaurant anfangen sollte. Schon der Gedanke, dass sie mit sämtlichen Erbangelegenheiten konfrontiert sein würde, war ihr zuwider. Damit wollte sie nichts zu tun haben, so sehr sie das Haus auch mochte. Sie ließ den Blick durch die Küche schweifen und sah dann durch den Flur zur Haustür hinüber. Draußen fuhr gerade ein Auto vorbei. Die Wanduhr tickte laut – dieselbe Uhr, die schon zu Rowenas Kindertagen dort gehangen hatte. Es war, als hielte das Gebäude den Atem an. Ian saß rauchend da, nippte an seinem Kaffee und schaute sich gleichfalls in der Küche um, die in ihrem makellos erhaltenen Stil der 50er-Jahre wie aus einem Einrichtungsmuseum wirkte.
Eine halbe Stunde später erschienen zwei junge Männer in gedeckten Anzügen, um die Tote abzutransportieren. Ian wies ihnen den Weg nach oben, während Rowena sich im Foyer aufhielt und ängstlich die Treppe hinaufschaute, um dann auszuweichen, als die beiden Bestatter die Trage die Stufen hinuntermanövrierten. Den Rücken flach an die Wand gepresst, sah Rowena zu, wie sie mit ihrer schmalen Last herunterkamen. Grotesk! Im Inneren des glänzenden schwarzen Sacks lag Claudias Leiche in derselben Position, die sie auch auf dem Bett eingenommen hatte: den Kopf auf die rechte Schulter gebettet, den dünnen Arm angewinkelt darunter. Rigor mortis – Leichenstarre. Rowena verspürte einen Brechreiz.
Als die Bestatter am Fuß der Treppe angekommen waren und das Rollgestell der Trage herunterklappten, löste Rowena sich von der Wand. „Augenblick!” rief sie, trat näher und bedeutete den Männern mit einer Handbewegung, den Leichensack zu öffnen.
Was mache ich denn da eigentlich?
„Rowena!” Ian versuchte einzuschreiten, doch sie schüttelte seine Hand ab.
Die jungen Männer schlugen höflich die Augen nieder, während einer den Reißverschluss des Sackes öffnete. Der vollen Wucht des im Tode erstarrten Antlitzes ihrer Schwester konnte sie nicht mehr entgehen: die Augen geschlossen, die blauen Äderchen auf den Lidern deutlich sichtbar; bleiche, perfekte Gesichtshaut, wunderschön und tot. Ein Irrtum! durchfuhr es Rowena. Ein völlig sinnloser Verlust! „Ich verlange eine Autopsie”, sagte sie mit brüchiger Stimme.
„Rowena!” Ian hatte den Arm um ihre Schulter gelegt und zog sie nun von der Leiche fort. „Der Pathologe sah doch keinen Anlass dafür! Sie ist tot! Es war ein Unfall! Lassen Sie es dabei bewenden! Lassen Sie’s gut sein!”
Sie wandte sich um, bemüht, ihm zu widersprechen und ihre Gründe in Worte zu fassen, doch ihr Hirn, so schien es, schwoll gefährlich an und drohte ihr schier den Schädel zu sprengen. Zunächst war sie verblüfft, ließ sich dann jedoch trösten, als Ian sie zu sich umdrehte, sie in die Arme nahm und ihren Kopf an seine Schulter bettete. Die beiden Männer vom
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