Abschied braucht Zeit
versuchen, im Respekt vor den vielen Menschen, deren Sterben ich begleitet habe, und vor dem Hintergrund meiner professionellen Erfahrungen mit sterbenskranken Menschen meine persönlichen Vorstellungen eines guten Sterbens zu konkretisieren. Dabei orientiere ich mich an Richard Smiths von mir in Kapitel 4 bereits kurz erwähnten Kriterien eines guten Todes. 209
1. Wissen, wann der Tod kommt, und verstehen, was im Sterben zu erwarten ist
Meine Mutter – sie war damals schon weit über 90 – hat einmal gesagt: »Wenn ich den letzten Zahn verliere und ich nicht mehr essen kann, dann naht die Zeit zu sterben.« Der wacklige letzte Zahn, von dem so viel abhing, war ihr besonders wichtig – sie behandelte ihn mit Ehrfurcht undverteidigte ihn wie einen kostbaren Schatz. Nein, ein Implantat kam für sie nicht in Frage, denn dieser Zahn hatte ja eine metaphorische Bedeutung: »Wenn ich keinen Biss mehr habe, dann kann, dann möchte ich sterben. Dann ist es auch gut so.«
Den meisten Menschen ergeht es ähnlich wie meiner Mutter – auch mir. Im Sterben seine personale Identität bewahren zu können und dabei möglichst wenig seiner körperlichen Integrität zu verlieren, sind wohl die wichtigsten Elemente eines guten Sterbens. Dazu gehört auch, intuitiv zu spüren, dass die biologische Lebenszeit zu Ende geht, zu wissen, dass der Tod kommt. Natürlich können heute auch bei Hochbetagten Zähne durch Implantate ersetzt werden, kann Ernährung durch entsprechende Diäten auch ohne Zähne möglich sein – aber sinnvoll wird dies erst, wenn dadurch körperliche Integrität und personale Identität nicht zerstört, sondern bewahrt werden. Ich habe im Laufe der vielen Jahre in der Begleitung Sterbender gelernt, auf Zeichen zu achten, die den Beginn eines guten Sterbens ankündigen. Diese Zeichen möchte ich auch in mir finden, wenn die Zeit gekommen ist. Dazu gehören die Gelassenheit, mit Schwäche umzugehen, und die Resilienz, der Trauer zu begegnen.
Als Frau S., eine alte Dame, merkte, dass sie die Flugente, die sie sich so sehr gewünscht hatte und die mit Rotkohl garniert vor ihr stand, einfach nicht mehr essen konnte, sagte sie etwas wehmütig, aber auch mit sanftem Humor: »Schade, dass die Ente umsonst gestorben ist, ich hätte ihr so gerne eine Freude gemacht, aber ist es nicht wunderbar, dass sie mir zeigt, dass nun auch für mich die Zeit gekommen ist?«
Auf Zeichen zu achten hilft natürlich nicht nur alten Menschen, sondern besonders auch Jüngeren mit zum Tode führenden Erkrankungen.
Herr Prof. G., Dozent an der juristischen Fakultät und begeisterter Redner, wusste, dass er aufgrund der Beschwerden durch einen bösartigen Zungentumor, der ihm die geliebte Sprache geraubt hatte, in den letzten Wochen seines Lebens viel Hilfe benötigen würde. Die Weihnachtsgeschichte, die er sonst immer erst in der Adventszeit verfasste und mit der er seit Jahren seine Studenten und die Familie erfreute, hatte er deshalb in diesem Jahr schon im Sommer geschrieben – lange vor dem körperlichen Verfall. »Ihr könnt ganz beruhigt sein, die Weihnachtsgeschichte ist fertig«, versicherte er den vielen Besuchern, die in den letzten Wochen von ihm Abschied nahmen. Prof. G. starb im Dezember, wenige Tage vor Weihnachten. Seine Weihnachtsgeschichte wurde für alle, die sie in diesem Jahr lesen durften, ein wunderbares Geschenk.
Das Erkennen von Zeichen, die mitteilen, wann der Tod kommt, erfordert neben Achtsamkeit jedoch auch die Fähigkeit, dem Tod nicht mit Erschrecken und Angst zu begegnen, sondern mit Aufmerksamkeit, vielleicht sogar Neugierde und Spannung. Ich möchte mich in Ruhe auf den Augenblick konzentrieren und mit einem Lächeln im Gesicht sterben.
2. Sterben können, wenn die Zeit gekommen ist, und keine sinnlose Lebensverlängerung erleiden
Auch ich möchte so lange leben, bis ich den letzten Zahn verliere. Und ich wünsche mir sehr, dass es noch eine ganze Zeitdauern wird, bis es so weit ist. Dennoch kann und möchte auch ich den Zeitpunkt nicht bestimmen. Nur ca. zehn Prozent der Menschen sterben den unerwarteten, sanften und friedlichen Tod im Schlaf, so wie sich die meisten gesunden Menschen, wenn sie darüber nachdenken – was keiner gerne tut – einen guten Tod vorstellen. Ich wünsche mir das nicht. Eigentlich möchte ich dem Tod gerne so wach und bewusst wie möglich in die Augen sehen. Ich möchte Zeit haben, meine letzten Dinge zu regeln, finanzielle und rechtliche Fragen zu klären, ein Testament
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