Abschied nehmen
muss ich nämlich noch einen Brief an diesen störrischen Kaufmann aus Leeds schreiben, mit dem ich gerade in Verhandlungen über eine Lieferung vom besten schottischen Whisky stehe. Er ist unheimlich gewieft und ich muss ihm schleunigst ein gutes Angebot machen, sonst verkauft er an jemand anderen. Und das wäre eine Schande, denn ich habe den Whisky bereits bei Edward Jefferson gekostet und er ist vorzüglich“, schwärmte George.
„Aber sicher warten wir. Wir haben ja Zeit“, entgegnete William, und als er Amys etwas enttäuschtes Gesicht bemerkte, zwinkerte er ihr zu. „Und wir beide können in der Zwischenzeit zusammen spielen, ja?“, sagte er und bei diesen Worten hellte sich die Miene seiner Schwester wieder auf und sie nickte breit lächelnd.
Nach dem Frühstück gingen sie getrennte Wege. George zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, Amy ging bereits nach oben, um ihre Spielsachen zusammenzusuchen und William legte einen dicken Mantel an und trat in die Kälte hinaus.
Es war wesentlich frischer als am Vortag. Es wehte ein eisiger Wind, der ihn frösteln ließ. Er zog den schwarzen Wollmantel enger um sich und stampfte durch den noch unberührten Schnee.
Der kleine Familienfriedhof befand sich in der hintersten Ecke des großen Gartens. Ihn umgab ein etwa zwei Fuß hoher weißer Lattenzaun und eine alte mächtige Linde hielt ihre nackten Zweige wie eine schützende Hand über die Gräber seiner Urgroßeltern, seiner Großeltern und seiner Mutter.
Durch das kleine Tor betrat William den Friedhof hockte sich hin und zog die mitgebrachte Kerze hervor. Sie anzuzünden stellte sich jedoch als gar nicht so einfach heraus. Erst als er seinen Mantel zum Schutz ausgebreitet, und damit den Wind abgeschirmt hatte, gelang es ihm endlich. Anschließend beeilte er sich, die Kerze in den gläsernen Behälter zu stellen, in dem sie nicht mehr ausgehen würde, bis sie niedergebrannt war.
Fünf Jahre war es her, dass Eleanor im Kindbett verstorben war und hier neben ihren Schwiegereltern von ihrer Familie begraben wurde. Sie hatte Williams Geburt bereits kaum lebend überstanden und die Hebamme hatte sie davor gewarnt, noch ein Kind zu bekommen. Als Elly dann vierzehn Jahre später erneut schwanger wurde, war sie sich dessen bewusst, dass sie wahrscheinlich ihr Leben dabei lassen würde. Doch trotz der Bitten ihres Mannes und der Ratschläge der Hebamme weigerte sich Elly, das Kind loszuwerden. Sie liebte Amy von dem Zeitpunkt an, als sie merkte, dass sie in ihr wuchs und es war ihr einfach nicht möglich, sie nicht zu bekommen, ganz gleich, welche Konsequenzen dies mit sich brachte.
William entfernte die Zweige, die auf das Grab geweht worden waren, und strich anschließend den Schnee glatt.
„Ich fürchte, dass ich dich heute zum letzten Mal an deinem Grab besuchen komme“, flüsterte er neben dem Kreuz hockend. „Du weißt sicherlich, dass ich bald fort muss und ich habe eine große Bitte an dich. Wache weiterhin über sie, wie du es bisher auch getan hast.“ Er hielt kurz inne und schluckte schwer. „Und es wäre schön, wenn du auch manchmal nach mir sehen könntest, ganz gleich, wo es mich hinführt“, fügte er noch beinahe lautlos hinzu, eh er sich nach ein paar schweigsamen Augenblicken wortlos von seiner Mutter verabschiedete und zum Haus zurückkehrte.
Der Mantel hatte ihn gut gewärmt, doch Williams Hände waren vollkommen durchgefroren, und als er nun den Salon betrat, kribbelte es heftig in seinen geröteten Fingern. Amy war bereits dort, sie saß auf dem Sofa und im Augenblick versuchte sie, das völlig verknotete Haar ihrer Puppe mit einer Bürste zu entwirren. Der Kopf der Puppe flog dabei hin und her und es kostete sie große Anstrengung, die Haare zu kämmen.
„William!“, rief das Mädchen erfreut, als sie ihren Bruder bemerkte. „Wo warst du denn so lange?“
Tatsächlich war William überhaupt nicht lange fort gewesen aber Amy war es wie eine Ewigkeit vorgekommen.
„Ich war bei Mamas Grab. Aber was machst du denn da?“, lenkte William schleunigst von dem Thema ab.
„Mary hat sich die Haare verknotet und sie gehen nicht mehr auseinander“, entgegnete sie und zerrte wieder mit einem grimmigen Gesicht an den Haaren ihrer Puppe.
William musste grinsen.
„Ach, Mary war das also und du hast damit überhaupt nichts zu tun,
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