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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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fest daran, wieder einmal ein silbernes Kaffeelöffelchen zu verzehren. Als ich an jenem Nachmittag mit Mutters Markttasche in der Hand vor der Verkaufsbude erschien, drängte sich dort schon eine Stunde vor der üblichen Öffnung des Ladens eine Traube von mehr als hundert Menschen, zumeist Frauen und einigen alten Männern, gegen die Eingangstür. Die Leute waren wütend, denn der Roßschlächter hatte den Laden schon eine Stunde vorher aufgemacht und bereits so viele von seinen Würsten verkauft, daß die noch Wartenden befürchten mußten, leer auszugehen. So drängten und drückten die stärkeren die alten und schwachen Leute von der Tür weg, um doch noch zu ihrem Teil zu kommen. Es gab einen richtigen Tumult, den ein gerade des Weges kommender >Blitzkopp< in der üblichen barschen Art der Schutzleute zu beheben versuchte, indem er die Leute von der Tür wegdrängte und ihnen befahl, sich in Schlange anzustellen. Aber die Zeiten, in denen allein das Auftauchen eines Blauen genügte, um der Staatsgewalt Respekt zu verschaffen, waren vorbei. Plötzlich war er von einer Meute wütender Weiber umringt, die mit Schirmen und Handtaschen auf ihn einschlugen, ihm den Helm vom Kopf rissen und ihn, als er blank zu ziehen versuchte, kurzerhand entwaffneten. Helm und Säbel flogen in die Büsche der noch zum Tiergarten gehörenden Schlucht, der Schutzmann wurde niedergerissen und niedergetrampelt und sah, als die wütende Menge sich plötzlich verflüchtigte und er von dem Roßschlächter in den Laden gezerrt wurde, blutverschmiert und mit zerfetzter Uniform gar nicht mehr würdig und respekteinflößend aus. Ich lief mit leeren Händen ziemlich aufgeregt nach Hause, um Mutter zu berichten, was ich erlebt hatte. Daheim lag die Abendausgabe der >Allgemeinen< auf dem Tisch mit der dicken Überschrift: »Kaiser Karl geflohen! Revolution in Wien und Budapest!« -Mutter war völlig niedergeschlagen und weinte, hauptsächlich aber wohl deshalb, weil sie nicht wußte, was sie Vater zum Abendbrot vorsetzen sollte. Sie seufzte, das sei der Anfang vom Ende...
    Und damit behielt sie recht. Mit einem entwaffneten Schutzmann auf den Hufen und ähnlichen kleinen Revolten in den anderen Stadtteilen, vor allem auf dem Sackheim, ging die Wilhelminische Aera zu Ende. Seltsam, daß in der Schule niemand von dem Zusammenbruch all dessen, was man uns gelehrt hatte und wofür wir erzogen worden waren, sonderlich Notiz zu nehmen schien. Anders kann ich es mir nicht erklären, daß mein Tagebucheintrag vom 9. 11. 1918 lautet: »Bin Obergeograph geworden!!! Freue mich sehr! In den Stunden von Dr. Hüttermann (Geschichte, Erdkunde, Latein) sitze ich ganz vorn und habe jede Stadt und jedes Land, von dem gerade die Rede ist, auf der Karte aufzuzeigen. Als Obergeograph kriegt man meistens eine Eins. (Natürlich nicht in Latein.)«
    Es war der Tag, an dem Extrablätter mit der Nachricht von der Abdankung des Kaisers und seiner Flucht nach Holland erschienen. Es war der Tag, an dem überall in den Straßen Aufrufe verteilt wurden, der sozialdemokratischen Partei beizutreten. Es war der schwarze Tag, an dem Vater mit einer roten Rosette im Knopfloch vom Dienst heimkehrte, weil er ohne dieses Abzeichen vom Straßenpöbel verprügelt worden wäre. Er riß das rote Ding aus dem Knopfloch und feuerte es in den Abfalleimer, und dann setzte er sich ins Wohnzimmer und starrte mit blinden Augen gegen die Decke und murmelte, jetzt wäre alles aus und jetzt werde er sich wohl um eine Stellung als Nachtwächter umsehen müssen. Am Nachmittag waren Soldaten mit roten Armbinden ins Landgericht eingedrungen, hatten den Präsidenten verhaftet und einen Gerichtsschreiber zum Präsidenten ernannt. Andere Soldaten hatten kurz zuvor das Hauptpostamt am Gesekusplatz gestürmt, den Postdirektor seines Amtes enthoben und einen Schalterbeamten namens Steinkopf auf den Direktorensessel gesetzt. Es war der schwarze Tag, an dem ein Soldatenrat von vier Infanteristen und einem Matrosen den Kommandierenden General verhaftet, sich in seinem Palais auf dem Vorderen Roßgarten etabliert und die oberste Gewalt übernommen hatte. Es war der schwarze Tag, an dem Offizieren, die sich auf die Straße wagten, die Kokarden von den Mützen gerissen und die Waffen abgenommen wurden. Es war der Tag, an dem es zu wilden Schießereien zwischen Kaisertreuen und roten Soldaten kam, Schießereien, die sich über eine Woche fortsetzten. Ich sah, wie ein Matrose, der auf dem Turm der Schloßkirche

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