Abschied und Wiedersehen
hinweg, als stände er vor einer Horde von Schwerverbrechern. Herr Hoffmann aber, von den Ergebnissen seiner Untersuchung völlig entmutigt, da die Verhörten sich taub und stumm stellten, beschwor uns in den vielen Leerstunden, die es durch den Ausfall einiger Lehrer infolge der Grippe gab, inständig und mit echten Tränen in den Augen, dieses entsetzliche Laster aufzugeben. Er empfahl uns kalte Waschungen, mäßiges Essen - als ob einer von uns gevöllert hätte! - Turnen, Hanteln, Sport und - in der Anfechtung das Gebet. Er brachte ein Buch mit, sein Verfasser war ein Medizinalrat namens Damm, und der Titel des Werkes, das zu lesen und zu beherzigen uns Herr Hoffmann eindringlich empfahl, hieß: >Die Krankheit der Welt<. Darin wies der gelehrte Verfasser mit seinem fundierten medizinischen Wissen nach, daß alle Krankheiten und Übel, von denen die Menschheit geplagt würde - vom Haarausfall bis zur Rückenmarksschwindsucht -, auf nichts anderes als auf Masturbation zurückzuführen seien. Nachdem wir von den bösen Urningen auch schon vernommen hatten, wurde unser Wortschatz in dieser außerplanmäßigen Sexualkunde um ein neues Wort bereichert. »Von jetzt an«, sagte der Alfred Teschenmacher, der zu uns gestoßen war, weil er das Klassenziel wieder einmal nicht erreicht hatte, »wird also nicht mehr gewichst, sondern masturbiert. Also, munter, Leute!« Dieser Teschenmacher war, als er zu uns kam, fünfzehn oder sogar schon sechzehn Jahre alt und wurde von uns sofort als eine bedeutende Führerpersönlichkeit anerkannt. Er stammte vom Lande und nahm es an Kräften mit jedem Primaner auf. Von ihm hörten wir die ersten Frau-Wirtin-Verse, und er vermittelte uns auch erste Kontakte mit der Bonifatius-Kiesewetter-Poesie, deren moralische Zweizeiler uns hell entzückten. Das Einjährige schaffte er nicht, aber dann ging er doch zum Hunderttausend-Mann-Heer, brachte es bis zum Feldwebel und muß das Masturbieren wohl aufgegeben haben, denn er brachte es im deutschen Heer zu dem Soldaten mit den höchsten und meisten Alimentenzahlungen. Vielmehr zahlte Väterchen Staat für ihn. Es waren achtzehn oder noch mehr Kinder, die von ihm in Allenstein und Umgebung herumliefen. Aber dann ereilte ihn ein furchtbares Schicksal. Eines der Mädchen, dem er wie auch allen anderen die Ehe versprochen hatte, bat ihn zu einem letzten Rendezvous, trug aber im Handtäschchen ein Rasiermesser bei sich, mit dem sie ihn beim letzten Liebesdienst aus Rache oder Eifersucht jenes männlichen Details beraubte, das ihm so viel Vergnügen und dem Staat so hohe Kosten gemacht hatte.
Wie gesagt, die lange und gründliche Untersuchung des Falles Harder brachte kein Ergebnis, niemand mußte die Schule mit Schimpf und Schande verlassen, und schließlich wuchs, wie immer im Leben, Gras über die leidige Geschichte. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des Medizinalrates Damm aber bewirkten, daß ich meinen Vater, dessen Scheitel im Verlauf der Jahre einem spärlichen Haarkranz rund ums Hinterhauptsloch Platz gemacht hatte, mit neuen Augen ansah, denn auf den Haarverlust hatte der Medizinalrat besonders ausdrücklich hingewiesen. Erheiternd dabei war auch, daß Herr Hoffmann, der noch immer einen vollen braunen Scheitel trug, auf den Haarausfall als Folgeerscheinung der Krankheit der Welt immer wieder zurückkam: »Zum Donnerwetter, wollt ihr denn später mit Glatzen herumlaufen?« - während Dr. Winter mit seinem blank polierten Schädel den Haarausfall nie erwähnte, sondern Erkrankungen des Rückenmarks, Lähmung, Erblindung und Einweisung ins Irrenhaus als schreckliche Folgen heraufbeschwor.
Vielleicht aber bewirkten auch die während dieser Verhöre eintretenden politischen Veränderungen, daß Herr Medizinalrat Damm mitsamt seinen idiotischen Gruselgeschichten endlich unter den Teppich gekehrt wurde. Wenige Tage vor dem Ausbruch der Revolution schickte Mutter mich zu der kleinen Holzbude am unteren Ende der Tiergartenstraße, in der ein Pferdemetzger markenfreie Leberwurst verkaufte. Sie war sehr dunkel und sah nicht besonders appetitlich aus, und Mutter deklarierte sie vor Vater als Leber-Ersatz-Wurst, denn er wäre eher Hungers gestorben, als daß er bewußt Pferdefleisch gegessen hätte. Dabei hatte es bei uns schon manchen Schmorbraten gegeben, an dem Vater sich delektiert hatte, obwohl der Braten noch kurz zuvor auf eisenbeschlagenen Hufen gelaufen war. Mutter machte Vater einfach weis, daß das Fleisch aus Rudau stammte, und Vater glaubte
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