Abschied und Wiedersehen
mir das bißchen Margarine nicht gegönnt hatte, denn bei mir bildeten sich seit einiger Zeit merkwürdige Knorpelauswüchse unterhalb der Knie an beiden Schienbeinen und auch auf den Schlüsselbeinen. Als sie mich ins Stadtkrankenhaus am oberen Schloßteich führte, erklärte ihr der Professor achselzuckend, damit kämen nun täglich Dutzende von Kindern zu ihm, und es handle sich fraglos um eine rachitische Erscheinung, und dagegen gäbe es nur ein Mittel, aber das könne er ihr nur verschreiben und nicht geben, nämlich gutes Brot, frische Butter, Eier und Milch von der Kuh und nicht das blaue Wasser, das jetzt als Milch verkauft würde.
In diesem ersten Nachkriegswinter begann die große Grippeepidemie, die bis zu ihrem Abklingen im Jahre 1922 in Europa zwanzig Millionen Menschen das Leben kostete. In unserem Haus raffte sie die Witwe Kallweit und ihre Tochter hinweg. In der ersten Etage starb der Amtsrichter Simoneit. Dann starb meine Großtante Emilie, jene mit dem schiefen Mund, und wenige Tage später folgte ihr Onkel Fritz, der alte Chinakämpfer, von dem es hieß, er hätte ein kleines Vermögen an Goldstücken über den Krieg hinweggerettet. Aber so emsig wir auch den Nachlaß der alten Leute durchwühlten, wir fanden nichts, was einer Goldmünze auch nur ähnlich sah. Und das ganze Chinazeug, das er mitgebracht hatte? In unserer Wohnung war für die kostbaren alten Vasen aus Porzellan und für die Vitrinen mit den Figürchen aus Jade und Elfenbein kein Platz. Mutter behielt zum Andenken zwei Wandbehänge aus gelber Seide, in feinster Arbeit mit bunten Blumen, exotischen Vögeln und Affen bestickt, die sie mir später schenkte, als ich am Stadtrand von München mein erstes kleines Haus bezog. Ein Händler in der Türkenstraße, auf chinesische und japanische Kunst spezialisiert, bekam bei ihrem Anblick runde Augen und einen geilen Zug um den Mund und fragte mich, wie ich zu diesen Kostbarkeiten käme, die fraglos aus dem Kaiserpalast in Peking stammten. Sollte ich ihm sagen, daß ein alter Onkel von mir sie dort höchstwahrscheinlich gestohlen hatte? - Der Nachlaß von Onkel Fritz kam unter den Hammer, und der Auktionator, Herr Tarray, hatte Mühe, den alten Kram loszuwerden. Es waren einige hundert Mark, die er Mutter schließlich auf den Tisch legte.
Uns verschonte die Grippe. Wir hatten aber auch das Rezept von Oma Gutbrod, stets eine oder zwei Kreidenelken im Mund zu tragen, nicht vergessen. Das bißchen Sommerspeck aus den Kranzer Tagen war inzwischen wie Märzenschnee an der Frühlingssonne von Vaters Rippen geschmolzen. Als meine Schwester Lotte, Lehrerin in Sonnenborn, einem Dorf in der fetten Mohrunger Gegend, zum Weihnachtsfest nach Hause kam, dieses Mal allerdings ohne das halbe Schwein, das wir vor zwei Jahren glücklich durch die streng bewachte Bahnhofssperre geschmuggelt hatten, aber immerhin doch mit einem Stück Fleisch, einem faustgroßen Klumpen Butter, einem Glas voll Gänseschmalz und einem Säckchen voll weißem Mehl, da starrte Vater am ersten Feiertag düster auf den Kartoffelberg, den er sich, von einer fast friedensmäßig fetten Bratensoße umspült, auf den Teller gehäuft hatte. Dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück, ließ den Blick um den Tisch wandern und verkündete, daß er die Nase von Königsberg voll habe, gestrichen voll, übervoll! Und, zum Teufel, er habe nicht die Absicht, hier zu verhungern! Und er habe schon mit dem Präsidenten gesprochen, der ihn nicht gern gehen lasse, aber sein Gesuch um Versetzung schließlich doch befürwortet habe...
»Wohin?« schrien wir, denn von solchen Absichten hatte er bis zu jenem Tag kein Wort laut werden lassen, und wenn er Mutter gegenüber davon auch gesprochen haben mochte, so hatte sie es nicht ernst genommen.
»Nach Bartenstein«, sagte er schlicht, »das ist eine solide kleine Stadt mit gutem Hinterland, Weizenboden und Weidewirtschaft...« Er sah uns an und schien begeisterte Zustimmung zu erwarten.
»Wie kommst du gerade auf Bartenstein?« fragte Lotte, »kennst du das Nest überhaupt?«
»Wozu soll ich es kennen?« fragte Vater ungnädig, daß der erwartete Applaus ausblieb, »aber ob Osterode, Tilsit, Rössel oder Bartenstein, das ist Jacke wie Hose. Aber eins kann ich euch sagen, die Kollegen aus diesen Nestern, die mich hin und wieder dienstlich besuchen, die sehen nicht so verhungert aus wie ich!«
»Schon wieder ein Umzug!« seufzte Mutter, »wo wir in dieser Wohnung gerade warm geworden sind. Wann soll
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