Abschied und Wiedersehen
eine rote Fahne hissen wollte, abgeschossen wurde und, sich in der Luft mehrmals überschlagend, schließlich mit zerschmetterten Gliedern auf dem Dach des Schlosses liegenblieb. Tagelang zogen schwer bewaffnete Streifen durch die Straßen, um Plünderungen der Geschäfte zu verhindern. Sie erschossen auf der Stelle, wen sie beim Plündern erwischten. Lange gab es weder Brot noch Mehl noch Milch noch irgendwelche anderen Lebensmittel. Wovon Mutter uns satt zu kriegen versuchte und wohl auch halbwegs satt machte, vermag ich nicht mehr zu sagen.
Wegen der Schießereien, wegen der Lebensmittelknappheit und wegen der allgemeinen Unsicherheit gab es ein paar schulfreie Tage. Vielleicht schwänzten wir den Unterricht auch ohne viel zu fragen, denn um eine Entschuldigung wäre, wenn man sie verlangt hätte, keiner verlegen gewesen. Natürlich trieben wir uns auf den Straßen herum, die Gutbrodjungen und ich zusammen mit ganzen Horden von Bengeln unseres Alters. Wo es was Eßbares zu klauen gab, klauten wir, und wenn es knallte, verzogen wir uns in Haustore oder fanden einen anderen Unterschlupf, einmal in der alten Steindammer Kirche und einmal im ausgeplünderten Hollando-Laden am Rollberg, aber solche Schießereien waren recht selten, für unseren Geschmack fast zu selten. An vielen Häusern wehten rote Fahnen. Manche waren so schmal, daß man ihnen ansah, die schwarzen und weißen Streifen waren gerade erst abgetrennt worden. Aber das Rot, selbst wenn es schon ein wenig verwaschen und durch die vielen Siege ausgebleicht war, gab der grauen Stadt unter dem grauen Novemberhimmel in meinen Augen eine festliche Note.
Auch am Himmel über der Stadt war etwas los. Dort kreisten unentwegt Flugzeuge, die große Mengen von Flugblättern mit den unterschiedlichsten Parolen abwarfen. Da wurde zum Festhalten an den Errungenschaften der Revolution aufgerufen, und zum Widerstand gegen die roten
Banditen, die den Kaiser und die Front schmählich verraten hatten. Wir sammelten die Flugblätter in Massen ein, denn Papier war knapp. Einseitig bedruckt waren sie Vater als Lokuspapier hochwillkommen, besonders die von der roten Partei. Der Walter Wallowitz, Sammler aus Leidenschaft, raffte zusammen, was er nur erwischen konnte, aber nicht zu hygienischen Zwecken, sondern für ein Revolutionsarchiv. -
Auf den Straßen schien mit Ausnahme von Königsbergs High Society das ganze Volk zu sein. Die Leute waren in einer freudig erregten Stimmung, fast wie zu Kriegsbeginn, als man die ins Feld rückenden Truppen mit Blumen, Hurrageschrei und >Es braust ein Ruf wie Donnerhall< zum Bahnhof begleitet hatte. Wo ein freier Platz war, auf dem Altstädtischen Markt, auf dem Roßgarten oder auf dem Münzplatz, hielt jemand von einer Brunnenschale oder von einem Denkmalssockel herab flammende Reden ans Volk, daß der Krieg nun zu Ende sei, daß es bald wieder Brot geben werde und daß die Zeit von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit angebrochen sei. Es gab Tränen und Umarmungen und viel Begeisterung. Dann hieß es wieder: Auf zum Paradeplatz, wo um drei der Kochran reden wird! - Die Massen setzten sich in Bewegung, wir Jungen rannten mit und grölten mit:
Wem haben sie die Krone geklaut?
Dem Wilhelm dem Doofen
dem Oberganoven
dem hamse die Krone geklaut!
Wer hat ihm die Krone geklaut?
Der Ebert der helle
der Sattlergeselle
der hat ihm die Krone geklaut!
Lieber Gott, wenn Vater mich gehört hätte, der Knüppel wäre aus dem Sack gefahren und hätte mir den Hintern verbläut. Die Flucht des Kaisers brachte Vaters Treue zum Hause Hohenzollern nicht ins Wanken. Das Kaiserbild mit der eigenhändigen Unterschrift, das mir der Adjutant nach dem Vortrag des Gedichts und der Überreichung des künstlichen Kornblumenstraußes aus Mutters Hut unter den blitzenden Augen Sr. Majestät überreicht hatte, hatte Mutter allerdings vorsichtshalber von der Wand genommen, denn Hausdurchsuchungen nach versteckten Vorräten und Revolutionsfeinden waren an der Tagesordnung. Das Kaiserbild, um dessen obere linke Ecke der Vater einen Trauerflor geschlungen hatte, hätte für ihn üble Folgen haben können. Er war schließlich kein Selbstmörder...
Die feinen Leute rührten sich in diesen Tagen nicht aus ihren Wohnungen. Frau Kallweit und ihre Tochter, die sonst von ihrem Fensterplatz im >Spion< das Kommen und Gehen auf der Straße vom Morgen bis zum Abend beobachtet hatten, zogen tagelang nicht einmal die, Vorhänge auf. Auch Onkel Fritz, der den Chinafeldzug als
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