Abschied und Wiedersehen
Bradzio die Gardinen auf, und am Ostersonntag war die Wohnung komplett eingerichtet. Um den Schinken, den Großmutter aus Lyck vom Fleischer Turek mitbrachte, hatte es ein langes Palaver gegeben. Mutter rechnete uns vor, wie lange sie uns davon nahrhafte und leckere Gerichte vorsetzen könnte, wenn wir nur sparsam wären, aber sie wurde von uns überstimmt; der Schinken sollte am ersten Feiertag als Schmandschinken mit geschmortem Sauerkohl auf den Tisch kommen. Aus dem guten Weizenmehl backte Mutter zwei Napfkuchen und einen Rosinenfladen, und der kam am Ostermorgen auf den mit dem guten Berliner Porzellan gedeckten Kaffeetisch.
Ach, wie lange hatte ich mich auf diese Feiertage und auf das gute Essen gefreut, auf den Schinken, auf den Berg mehliger Kartoffeln, von der fetten Sahnesoße lieblich umspült... Wahrscheinlich konnte auch Vater die Genüsse, die auf uns zukamen, kaum erwarten, denn er trieb mich nach den alten Osterbräuchen schon am frühen Morgen mit dem Ruf >Schmack Oster - schmack Oster!< und mit Rutenstreichen auf den nackten Hintern aus dem Bett. Es war noch kalt, die Birkenzweige ließen ihr grünes Laub nicht einmal ahnen und brannten wie Feuer auf der Haut. Aber das gehörte nun einmal zum Fest. Ich hätte ja nur früher aufstehen und Vater zu schmackostern brauchen... Ich zog den guten blauen Anzug an, den mir >Onkel Richard< gütig überlassen hatte, als seine Knie durch die Hosenbeine schimmerten. Auf meine Größe umgearbeitet sah er wie neu aus. In der Küche summte das Kaffeewasser im Kessel. Großmutter erschien feierlich in ihrem schwarzen Taftkleid mit der Gemme auf der Brust und überreichte jedem von uns als Ostergeschenk ein hartgekochtes, bunt eingefärbtes Ei, auf dem in feiner Kratzzeichnung und von Blumengirlanden umrahmt >Frohe Ostern!< zu lesen war.
Bevor Mutter die Kaffeekanne auf den Tisch stellte, kam mir der Einfall, diese festliche Tafel und ihre Teilnehmer zu fotografieren.
»Ja, Jungchen«, sagte Vater, »das erste Osterfest seit 1916, an dem es uns wieder gut geht. Das muß im Bilde für alle Zeiten festgehalten werden!«
Für Aufnahmen, auf denen ich dabei sein wollte, hatte ich mein eigenes Patent. Wenn der Apparat fest auf dem Stativ stand, steckte ich eine große Stecknadel, in die ich eine Schlaufe gebogen hatte, unterhalb des Apparates fest in den Fußboden, knüpfte einen Zwirnsfaden um den kleinen Auslöserhebel, zog den Faden unten durch die Schlaufe der Stecknadel und konnte dann, wo ich auch stand, den Auslöser durch einen leichten Zug zur Öffnung der Blende bringen. Das hatte ich schon oft mit Erfolg ausprobiert. Als Mutter die Kaffeekanne auf den Tisch stellen wollte, fiel es ihr plötzlich ein, daß sie den Filzuntersatz für die Kanne mitzubringen vergessen hatte. Ich war gerade dabei, die Nadel für die Gruppenaufnahme in den Boden zu drücken, als sie mir zurief, ich möge doch rasch in die Küche laufen und den Untersatz aus dem obersten Fach des Küchenschranks holen.
»Oben linkerhand!« rief sie mir noch nach.
Ich hatte die krumme Nadel zwischen die Lippen geklemmt, lief in die Küche, griff ins Schrankfach und rief - oder wollte rufen - daß ich den Untersatz nicht finden könne, als es passierte. Wie es geschah, ob ich Luft holte, ob ich die Nadel zwischen den Lippen vergessen hatte, oder ob ich plötzlich husten mußte, ich weiß nicht, wie es geschah, jedenfalls hatte ich die Nadel plötzlich verschluckt. Ich spürte sie in der Kehle, ziemlich schmerzhaft, versuchte sie herauszuwürgen, steckte mir den Finger in den Hals, um mich zu übergeben und die Nadel vielleicht auf diese Weise loszuwerden... Alles Würgen war umsonst, und ich schlich, blaß im Gesicht, zu der festlichen Tafel zurück.
»Ich habe die Nadel verschluckt...« stammelte ich abgewürgt.
»Was für eine Nadel?« fragte Vater und legte das Stück Rosinenfladen, das er in der Hand hielt, auf den Teller zurück.
»Mein Gott«, ächzte Mutter, »die große Nadel, die er immer nimmt, wenn er mit aufs Bild kommen will!« »Sowas idiotisches!« zürnte Vater, »eine Nadel in den Mund zu nehmen!« Er schien nicht abgeneigt, mir eine zu kleben. Auf diese Weise hatte er seine Besorgnisse um mich schon öfters abreagiert. Ich spürte die Nadel noch immer im Hals. Sie schien sich im Schlund verfangen zu haben, aber zu tief, als daß ich sie mit den Fingern hätte erreichen können.
Großmutter war die einzige, die die Ruhe bewahrte. »Kannst du atmen, Jungchen?« fragte sie.
Ich
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