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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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atmete ihr etwas vor...
    »Dann steckt die Nadel wenigstens nicht in der Luftröhre«, sagte sie. »Wo wohnt hier der nächste Arzt?« Das vermochte ihr niemand zu sagen.
    »Los, Lina, schnell! Hol mir meinen Mantel!« befahl sie resolut, und Mutter war auch schon unterwegs, um den Mantel zu bringen. Das Kopftuch aus schwarzer Chenille brachte sie auch mit, denn das Osterwetter war alles andere als freundlich, und Großmutter hatte es immer ein bißchen mit den Ohren. Und während sie in den Mantel schlüpfte und das Kopftuch umband, sagte sie, wir würden schon unterwegs erfahren, wo der nächste Arzt zu finden sei. Und dann liefen wir los, und ich bemerkte, daß Großmutter noch erstaunlich gut auf den Beinen war. Der Arzt wohnte gleich hinter dem Heilsberger Tor am Markt und hieß Dr. Höfer. Die Nadel schien unterwegs tiefer gerutscht zu sein, denn ich konnte sie nicht mehr spüren. Wir störten den Doktor gerade beim Frühstück, und er war von unserm Osterbesuch sichtlich nicht beglückt, aber die Unmutsfalten glätteten sich rasch, als er erfuhr, worum es ging.
    »Eine große Stecknadel mit einer Schlaufe, sagst du«, murmelte er und schob die goldgefaßte Brille auf die Stirn, »hm, das klingt nicht besonders gut. Mit Stecknadeln ist das so eine Sache, des Kopfes wegen. Eine Nähnadel wäre mir lieber gewesen. Die gehen gewöhnlich glatt durch. Aber nun laß den Kopf nicht hängen, Bürschchen. Vielleicht kriegen wir die Geschichte hin.« Er ließ die Brille wieder auf die Nase fallen und drehte sich zu Großmutter um: »Was hätte es denn heute zu Mittag gegeben, Oma?« »Schmandschinken, Herr Doktor«, antwortete Großmutter leicht verwirrt, da sie mit dieser Frage nun wirklich nichts anzufangen wußte.
    »Das nenn ich Pech, mein Junge«, sagte Dr. Höfer mit dem Anflug eines kleinen Grinsens, »du wirst jetzt schön nach Hause gehen, und deine Oma wird dir einen großen Topf voll Kartoffelbrei kochen, und zwar sofort! Und mit dem Kartoffelbrei - aber ohne Milch und ohne Fett! -wirst du dir den Bauch vollstopfen, unaufhörlich, Tag und Nacht! In der Nacht mindestens alle zwei Stunden, verstanden? Und das wirst du drei oder vier Tage lang tun, so lange, bis die Nadel am anderen Ende wieder herauskommt. Und alles, was da rauskommt, das rührst du ab übermorgen durch ein Sieb. Das ist wichtig. Damit wir nämlich wissen, ob die Nadel dabei ist oder nicht. Und wenn du sie gefunden hast, dann kommst du zu mir und zeigst mir deine Patentnadel. Ich fotografiere nämlich auch ein bißchen, und ich habe immer Mühe, bevor der Blitz hochgeht, ins Bild zu springen...«
    »Und wenn sie nicht rauskommt, Herr Doktor?« fragte Oma.
    »Dann sehen wir weiter«, antwortete er; »aber machen Sie sich zu früh keine Sorgen. Mit dem Kartoffelbrei habe ich die besten Erfahrungen gemacht.«
    Mein Gott, das war ein Osterfest! Mir wird noch heute übel, wenn ich in der Fernsehreklame auf dem Bildschirm den Herrn sehe, der mit verzückten Blicken Kartoffelbrei in sich hineinstopft und entsetzt erleben muß, wie andere Löffel in den Brei fahren, um ihm die Köstlichkeit wegzufressen. Drei Nächte und dreieinhalb Tage habe ich, während die andern in Schinkenorgien schwelgten und zum Kaffee Mutters goldgelben Napfkuchen vertilgten, dicken, kaum mit Wasser angerührten Kartoffelbrei in mich hineingewürgt. In den Nächten weckte mich Großmutter alle zwei Stunden und stopfte mich wie eine Mastgans. »Ess, Jungchen, ess!« flehte sie mich an, wenn ich den Löffel in die Ecke feuern wollte. Und ich schluckte, schluckte, schluckte... Das Rührgeschäft mit dem Sieb besorgte Großmutter, Gott sei Dank, denn Kartoffelbrei, in welcher Form auch immer, hätte ich nicht mehr sehen können. Sie hätte sich der Mühe nicht zu unterziehen brauchen. Denn um die Mittagszeit des vierten Tages schrie ich plötzlich: »Oma, es spickt!« und da hatte ich die verfluchte Nadel auch schon zwischen Daumen und Zeigefinger...
    Noch am gleichen Nachmittag rannte ich zu Di. Höfer, um ihm die Nadel zu zeigen und ihm von dem Erfolg seiner Kur zu berichten. Er sah sich die Nadel lange an. »Daß die so glatt durchgegangen ist!« sagte er respektvoll, »da hast du Glück gehabt, Bürschchen. Ehrlich gesagt, habe ich mir um dich schon Sorgen gemacht und gefürchtet, daß wir dir den Bauch aufschneiden müssen. - Na, hat man dir vom Osterschinken wenigstens etwas zurückgelassen?«
    Ich nickte sparsam. Ja, sie hatten mir zwei Portionen zurückgelegt, aber mir war

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