Abschied und Wiedersehen
aus den Fässern hochspritzte, andere drehten sich wie tanzende Derwische im Kreise und jauchzten, als wäre ihnen eine Art von Pfingstwunder widerfahren: »Pythagoras - Pythagoras - Pythagoras!«
Dem Eigens war es irgendwie gelungen, sich auf das Katheder zu flüchten. Da saß er nun, völlig gebrochen, die langen Arme hingen ihm wie zerschossene Flügel herab. Er hielt die Augen geschlossen. Das Kinn berührte seine magere Brust. Ein erbarmungswürdiger Anblick, der uns langsam verstummen ließ. Die allmählich eintretende Stille erweckte den Eigens wieder zum Leben. Er atmete flach, aber er atmete, und sein Blick glitt über unsere Gesichter: »Ihr habt mich erschreckt, Buben«, sagte er leise und fuhr sich mit der Hand über die Augen, als müsse er ein Spinngewebe fortwischen, »ich war Zeuge eines dionysischen Rausches, den der Name des großen Pythagoras in euch ausgelöst hat. Aber die Mathematik hat mit Dionysos nichts zu schaffen! Mathematik ist licht und klar, eine heilige Flamme auf dem Altar Apolls - ja, sie ist apollinisch, absolut apollinisch und nur apollinisch! Denkt stets daran und beschwört Apoll, wenn ihr den Namen des großen Pythagoras aussprecht.«
Wir glotzten ihn an und verstanden kein Wort, nur der Reske neben mir seufzte tief auf, stieß mir den Ellenbogen in die Rippen und sagte, während er den Eigens mit einem verklärten Blick ansah: »Apollinisch, du Rindvieh, was ich immer schon gesagt habe! Apollinisch!«
Wir hatten zwei Lehrersöhne in der Klasse, den Herbert Schott und den Gotthold Krieger. Mit Schotts Vater hatten wir so gut wie nichts zu tun, das kam erst später, um so mehr aber mit Kriegers Vater, denn er gab bei uns Griechisch. Wie alt er damals wohl gewesen sein mag? Vermutlich zwischen vierzig und fünfundvierzig; in unseren Augen war er ein uralter Mann, der die Sprache Homers mit märkwürdigen astpreißischen Lautgebilden würzte und ein strenges Regiment führte. Schlechtes Betragen ahndete er durch Einträge ins Klassenbuch, schludrige Arbeiten bestrafte er durch ein- bis dreistündiges Nachsitzen, und bei fehlerhaften Antworten teilte er freigebig Ohrfeigen aus. Nie habe ich ein glücklicheres Gesicht gesehen als das von Gotthold Krieger, als sein Vater dem baumlangen Brusdeilins wegen einer falschen Antwort eine Ohrfeige verpaßte und im nächsten Augenblick von Brusdeilins eine mit dem Handrücken geschlagene Backpfeife bezog, die seine Brille in weitem Bogen durch das Zimmer fliegen und ihn selber zum Katheder zurücktaumeln ließ. Wir saßen geduckt in unseren Bänken...
»Sie werrden miech fier eine falsche Antwurt niecht zum zweiten Mal schlaggen, Härr Professor!« sagte der Brusdeilins ganz ruhig und gelassen in die atemlose Stille hinein. Einer von den Brüdern Bachler hob die Brille auf und legte sie aufs Katheder. Hinten rieb sich der Gotthold noch immer mit verklärtem Gesicht die Hände, während sein Vater wortlos aus dem Zimmer stelzte und uns allein ließ.
»Scheise«, sagte der Brusdeilins mit ganz weichem, stimmhaftem S, »jetzt werrde ich meine Klamotten wohl packen miessen...«
Aber das Unerwartete geschah. Er mußte nicht. Es passierte überhaupt nichts. Der alte Krieger trat am nächsten Tag, als ob nichts geschehen sei, vor die Klasse und setzte den Unterricht an der Stelle, an der er gestern durch den Knall von zwei Ohrfeigen unterbrochen worden war, ohne eine Bemerkung zu den Ereignissen des voraufgegangenen Tages fort. Für uns fast ein Grund, wieder an Wunder und an Märchen zu glauben.
Aber ich muß wieder auf den Eigens zurückkommen. Nicht, um das Kapitel Pennälerstreiche genüßlich zu erweitern, sondern um die Frage zu stellen, welcher Dämon uns trieb, einen hilflosen, anständigen und grundgütigen Mann bis an den Rand des Wahnsinns zu treiben. Wir waren doch allesamt Jungen aus leidlich gutem Stall, und wenn schon nicht christlich, so doch kantianisch im Sinne des kategorischen Imperativs erzogen worden; von meinem Vater hörte ich ihn oft genug. Woher kam nur diese infernalische Grausamkeit, mit der wir beim Eigens in die Glut bliesen, die Flammen hochzüngeln ließen und wie Pyromanen einen Brand entfachten, der von dem Mann zum Schluß nur ein armseliges Aschenhäufchen zurückließ.
Da trat er eines Tages in die Klasse und rief Herbert Schott zur Tafel, um ihn die Formel (a + b • a - b) 2 laut rechnen zu lassen, damit es jeder mitbekäme. Schott stellte sich vor die Tafel, nahm die Kreide zur Hand und wiederholte
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