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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Flasche da, schenkte ein und behauptete kühn, nun würde ich mich gleich wie neugeboren fühlen. - Es muß eine wahre Kabarettvorstellung gewesen sein, die ich in den ersten zwanzig Minuten des Spiels zwischen den Pfosten geboten habe. Die Zuschauer quittierten meine Leistungen mit Lachsalven. Ich sah zwar den Ball aufs Tor zufliegen, leider nicht nur einen, sondern zwei oder drei, und sprang nach dem falschen. Und dann wurde mir auch noch speiübel, und ich ließ den Kognak neben dem Torpfosten aus den Zähnen fallen. Bis sie mich rausschmissen und einen Ersatzmann ins Tor stellten, hatte ich ein rundes Dutzend Bälle im Kasten, mein Nachfolger ließ auch noch vier passieren, so daß Bartolonia mit der schmählichen Packung von 16:0 den Rückweg antrat. Ich hörte, was die Weiber und den Suff anbetraf, nicht nur von meinen Clubkameraden, sondern auch von den Herren des Lehrkörpers zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit noch wochenlang anzügliche Bemerkungen. Ich schwor Abstinenz und wechselte zur Leichtathletik über...
    Doch das war wieder einmal wie schon so oft ein Vorgriff auf zukünftige Ereignisse. Vorläufig saßen wir noch auf der Untertertia, hatten den Eigens als Klassenleiter und bekamen bald die erste Vorstellung von dem, was uns von Dettki und Wermke prophezeit worden war. Wir erwarteten den Eigens zur dritten oder vierten Mathematikstunde im neuen Schuljahr. Gleich bei seinem Eintritt fiel uns sein sozusagen von innen erleuchtetes, feierliches Gesicht auf. Unser lauter Gruß zu seinem Empfang schien sein Ohr zu verletzen, und er drückte uns mit der Handbewegung eines Dirigenten, der Posaunen und Trompeten zum Pianissimo auffordert, auf die Sitze zurück.
    »Still, Buben, ganz still nun!« flüsterte er mit der beschwörenden Stimme eines Magiers, »ihr werdet in dieser Stunde zum ersten Mal in euerm jungen Leben den Namen eines Mannes vernehmen, den ich nur mit größter Ehrfurcht zu nennen wage. Es gibt in der Geschichte der erlauchtesten aller Wissenschaften, der Mathematik, nicht viele Namen von solcher Größe und Bedeutung...« Und nun wehte seine Stimme nur noch wie ein Hauch über unsere Köpfe hinweg: »Ich nenne euch die hehren Namen von Euklid - Erathostenes - Ptolemäus - Galilei - Kepler - Newton - gut, gut, Namen, die eure Herzen einst in
    Ehrfurcht höher schlagen lassen werden. Nun aber will ich euch den Namen jenes Großen nennen, den ihr fortan nur mit jenem heiligen Schauer im Herzen aussprechen sollt, den auch ich empfinde, jedes Mal empfinde, wenn ich ihn über die Lippen bringe...« Große Pause, verzückte Augen im bleichen, zur Decke gerichteten Asketengesicht, dünne, lange Arme wie zum Segen erhoben, und dann,
    kaum noch vernehmbar: »Pythagoras ---Ganz still, ihr
    Buben! - Still, wenn der Atem des Geistes Weht! - Pythagoras ...«
    In diesem Moment, in dem uns der große Pythagoras auch nicht die Spur eines heiligen Schauers über den Rücken laufen ließ, wohl aber die Haltung unseres Eigens, die mich fast so unheimlich berührte, wie wenn früher in der Vorschule der Otto Eich in einem epileptischen Anfall plötzlich seitlich aus der Bank gekippt und in schreckliche Zuckungen verfallen war und wir andern von Herrn Hoffmann aus der Klasse gescheucht wurden - in diesem Moment sprang in der letzten Bank, wo er neben Eulenburg saß, der Kuno Brockmann auf, der Klappsitz knallte wie ein Gewehrschuß, und mit seiner sich im Stimmbruch überschlagenden Stimme brüllte er dem Eigens den hehren Namen dreimal entgegen: »Pythagoras! Pythagoras!! Pythagoras!!!«
    Der Eigens prallte wie von einem Kolbenstoß voll getroffen zurück, er duckte sich, sein Kinn begann zu zittern, seine Augen glühten aus schmalen Schlitzen, und sein Atem kam stoßweise und röchelnd: »Bube! Nichtswürdiger, niederträchtiger Bube! Du wagst es, diesen heiligen Namen...«
    »Ich kann nicht anders, Herr Professor!« schrie der Brockmann, »es hat mich übermannt! Nein, Herr Professor, es ist mir gänzlich unmöglich, diesen heiligen Namen zu flüstern! Er ist ja sooo groß - sooo groß - so unendlich groß! Pythagoras!!!«
    Und plötzlich sank der Reske an meine Brust und schluchzte: »Pythagoras! Das ist zuviel! Das geht über meine Kraft!« Und dann wurde die Klasse zum Tollhaus. Wir sprangen empor, faßten uns an den Händen, brüllten den heiligen Namen und tanzten im Reigen um den Eigens herum, einige lagen platt auf den Bänken und trommelten wie die Irren auf die Tischplatten, daß die Tinte

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