Abschied und Wiedersehen
er mehr nach dem Krächzen der Trompete von Gravelotte als nach sonst was. Ein Klarinettenlehrer mußte her, und ich fand ihn ganz in der Nähe unserer Wohnung am Anger in einem einstöckigen, gelben Biedermeierhaus, in dem einige Arbeiter vom Bauunternehmer Meier mit ihren Familien wohnten. Mein Lehrer hieß Boddien, war bei Meier Lagerist und nebenbei Klarinettist in der Stadtkapelle. Er sah schwindsüchtig aus und hustete zum Gotterbarmen, aber er behauptete, das käme vom Rauchen. Seine Frau sah gar nicht schwindsüchtig aus, aber das kam daher, daß bei Boddiens ständig etwas Kleines unterwegs war. In der Stube, in der August Boddien mich unterrichtete, hüpften immer ein halbes Dutzend Kinder herum, und mindestens zwei lauschten dem Unterricht auf dem Topf. Vorerst aber ließ August Boddien mich auf sauren Wiesen große Stengel von Schachtelhalmen suchen, die wurden auf dem Herd bei milder Wärme getrocknet, und mit ihnen, deren Rinde mit diamantharten Kristallen in feinster Verteilung gespickt war, wurden die Bambusblättchen geschliffen, so lange, bis sie auf den leichtesten Lufthauch ansprachen. Und siehe da, ich brachte den ersten reinen Ton zustande. Äußerst unappetitlich war nur, daß August Boddien nicht seine Klarinette für den Unterricht benutzte, sondern mir auf meinem Instrument Tonleitern in allen Variationen vorblies, mir dann das Instrument, feucht wie es war, in den Mund schob und mich aufforderte, das Vorgeblasene zu wiederholen. Das war so grausig, daß ich den Unterricht bald abbrach und es auf eigene Faust zum Könner auf der Klarinette zu bringen versuchte. Mit geringem Erfolg, wie ich zugeben muß.
In der Annahme, daß getragene Stücke für den Anfang am besten geeignet wären, begannen wir unter der Stabführung von Herrn Schott zunächst mit dem Largo von Händel, wagten uns dann an den Trauermarsch von Chopin, den Herr Schott hartnäckig >den Schobbäng< nannte, steigerten uns zum Hohenfriedberger und zu Preußens Gloria und stürzten uns schließlich in das tollkühne Abenteuer, mit Chor und Orchester >Die Himmel rühmen< zu proben. Leider wuchs unser Dirigent nicht mit den höheren Aufgaben. Ob es das Largo oder Preußens Gloria war, immer schlug er mit dem Taktstock genau abgezirkelte gleichschenklige Dreiecke in die Luft und brachte uns mit seinen Einsätzen, die stets drei Takte zu früh oder zu spät kamen, in die höchste Verwirrung. Wenn wir das Stück am Ende dann doch glücklich über die Runden brachten, so hatten wir das Ottokar Tichauer zu verdanken, der als Primgeiger den Takt bestimmte und Blech, Holz, Streichern und Schlagzeug mit dem Bogen oder durch einen Blick das Zeichen zum Einsatz gab.
Es war noch kein Jahr vergangen, da hatte ich in Bartenstein so feste Wurzeln geschlagen, als wäre ich hier geboren und aufgewachsen. Und was war schon in Königsberg ein Sekundaner oder Primaner? Ein kleiner Pennäler und keinen Deut mehr. Dort begann man etwas zu gelten, wenn man die bunte Mütze einer Studentenverbindung trug. Hier in dem kleinen Nest an der Alle bedeutete die blaue Sekundaner- und erst recht die rote Primanermütze, daß man wer war und einen Wechsel für die Zukunft in der Tasche trug. Sekundaner und Primaner wurden zu den Festen des Kaufmanns-Vereins, des Vaterländischen Frauenbundes, der Schützengilde und des Kriegervereins eingeladen und waren als Tänzer der Töchter willkommene Gäste. Und nicht nur als Tanzpartner; es wurden von den Müttern im Hinblick auf die zukünftige akademische Laufbahn des jungen Mannes die zarten Fäden zu Netzen verknüpft und so dauerhaft gesponnen, daß manche Pennälerliebe schließlich am Traualtar ihren Segen durch Herrn Superintendenten Nietzki bekam...
Ach, wie würde ich jedem Jungen und jedem Mädchen jene kurzen Jahre vergönnen, die ich in Bartenstein verleben durfte. Jene Sommer, in denen wir uns im Wasser des
Oberteichs balgten, in denen wir zum Bärenwinkel hinauszogen, uns die Bäuche mit Himbeeren, Erdbeeren und Brombeeren vollschlugen, ins kristallklare Wasser der Alle sprangen und uns in dem glitzernden Ufersand von der Sonne braten ließen. Jene Sommer, in denen Willi Andre mich um drei Uhr morgens durch den Zug an einer Schnur, die von meinem Zeh durch den Vorgarten bis zur Straße lief, weckte, um mich zum Angeln an den kleinen Mekiener See abzuholen. Jene Sommer, in denen wir am Flußufer Treibholzfeuer emporlodern ließen, in der Asche Kartoffeln und in der Glut Würste brieten, die der Sohn vom
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