Abschied und Wiedersehen
brachte Mutter gelegentlich im Dutzend heim und setzte sie uns gebraten oder geschmort in pikanten Soßen als Wachteln oder als Rebhühner vor. So was Leckeres hatten wir schon lange nicht mehr gegessen, nur Vater wunderte sich immer, wo um diese Jahreszeit Wachteln und Rebhühner geschossen würden. - Wie nahrhaft die Gegend war, sah ich an den Wurstbroten, die die Jungen vom Land zum Frühstück in die Schule mitbrachten, der Brockmann, der Wermke, der Bronsert und der Dettki - nur der Graf zu Eulenburg nicht, der kam mit einem bescheidenen Schmalzbrot in die Schule, denn er hatte schon daheim gut gefrühstückt. Sein jüngerer Bruder und er waren nämlich Pensionäre unseres Superintendenten Nietzki, und der verstand etwas von Psychologie und ließ keinen Neid aufkommen.
Es dauerte lange, bis in den nächsten Winter und bis ins nächste Frühjahr hinein, bis sich ein kleiner Teil von dem großen Segen des Landes auch in Mutters Speisekammer verirrte. Durch meine Freunde, Bartensteiner Bürgersöhne, lernte Mutter nach und nach deren Mütter kennen; die nahmen sich ihrer an und forderten sie schließlich auf, sich mit ihren hochkünstlerischen Begabungen an den Veranstaltungen des Vaterländischen Frauenvereins zu beteiligen. Bei diesen Veranstaltungen gab es immer eine Tombola, deren Erlös einem wohltätigen Zweck zufloß. Mutter half nicht nur bei der Ausschmückung des Rathaussaales, in dem die festlichen Veranstaltungen stattfanden, sie stiftete großzügig drei oder vier von ihren Strickdecken. Die Damen, und vor allem die Damen vom Lande, auf die es Mutter abgesehen hatte, waren von diesen zarten Gebilden so begeistert, daß sie Mutter fragten, wo es denn diese entzückenden Strickereien zu kaufen gebe. Mutter erbot sich in schöner Hilfsbereitschaft, die Damen in die Geheimnisse der Rundnadel einzuweihen, aber die waren mit ihrer Landwirtschaft und mit ihrem Personal viel zu beschäftigt, um für Handarbeiten Zeit zu finden. Und damit begann Mutters kleine Industrie wieder zu blühen, die uns über die mageren Jahre und über die Inflation hinwegtrug. Nein, Mutter hatte es fortan nicht mehr nötig, Saatkrähen in Rebhühner zu verwandeln. Sie belegte sich bald auch nicht mehr wie unsere Kaiserin Auguste Viktoria im Exil, sie legte die tragische Maske ab und begann, ihren Schmerz um Königsberg zu überwinden und Bartensteins Sonnenseiten zu entdecken.
Mich hatte die kleine Stadt längst, eigentlich von Anfang an, eingefangen. Ich fühlte mich in ihr so wohl wie früher in Lyck, wenn ich dort die Ferien bei den Großeltern verbringen durfte. In der großen Stadt hatte man kaum die Namen der Leute gekannt, mit denen man in einem Haus zusammen wohnte. Hier kannte man bald die halbe Stadt, man fühlte sich dazugehörig, wie zu einer großen Familie. Wenn es in Königsberg einen großen Brand oder ein Unglück gegeben hatte, las man es anderntags in der Zeitung, und es berührte einen so wenig wie ein Erdbeben in der Türkei. Aber wenn es hier brannte, dann lief der Fleischer Schink mit dem schaurig tönenden Tutehorn durch die nächtlichen Straßen, der Spritzenwagen polterte über das Kopfsteinpflaster des Marktes, was Beine hatte, rannte zur Brandstelle, um zu helfen und zu retten, und wir Jungen hängten uns, wenn der Befehl >Wasser - marsch!< erscholl, mit aller Kraft in die Pumpenschwengel.
Wenn von Zeit zu Zeit ein Brief von den alten Freunden eintraf, wenn Kurt Gronwald schrieb, daß er mit der Schriftstellerei aufgehört und zu malen angefangen habe, oder wenn Alfred Kleiber mir vermeldete, seine Alten wären total verrückt geworden und dem Orden der Guoten beigetreten, dann waren das für mich bald Nachrichten vom Mond. Ich schämte mich ein bißchen, denn wir hatten uns doch als Blutsbrüder ewige Treue geschworen, und ich hatte die alten Freunde auch nicht völlig vergessen, aber ich hatte mich von ihnen gelöst, um in neue Freundschaften hineinzuwachsen. Wenn ich mich auch nach dem Verlust eines Backenzahns und dem Bruch des linken Knöchels für den Fußball nicht besonders erwärmen konnte, so war ich doch in den Fußball-Club >Bartolonia< eingetreten und trug die blauweiße Nadel mit dem komplizierten Zirkel stolz auf der Brust. Mein Idol wurde Ernst Römer, ein geschmeidiger, schwarzlockiger Obersekundaner, der das Bartolonia-Tor hütete, die hohen Schüsse des Gegners mit wahren Panthersprüngen aus der Luft holte und die flachen Bälle in tollkühnen Robinsonaden aus den Ecken fischte.
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