Abschied und Wiedersehen
Fleischer Wittstock aus der Wurstküche klaute und daher bei uns, obwohl er nicht ins Gymnasium ging, ein lieber und gern gesehener Gast war. Und jene Winter, jene klirrenden Winter mit der blankgefegten Eisfläche auf dem Oberteich und auf dem kleinen Weiher hinter dem Landgericht, wo wir zu den Klängen eines krächzenden Grammophons an der Seite von Kätchen Krämer, Suse Fleischer, Hildegard Scekay, Hanna Vonberg, Ellen Jaab oder Karlotta Trautmann Hand in Hand im Bogen rechts und im Bogen links dahinschwebten oder sogar einen Walzer aufs Eis zu legen versuchten. Jene Winter, in denen Tutti Meier ihren Bauunternehmer-Vater so lange bezirzte, bis er uns Pferd und Kutscher stellte, an dessen Schlitten wir fünfzehn oder zwanzig Rodel anhängten und vor Lebenslust juchzten, wenn die Schlitten im scharfen Galopp aus einer Kurve getragen wurden und die ganze Gesellschaft in einer Schneewehe durcheinanderpurzelte. Jene Winter, in denen uns eine Ahnung zu beschleichen begann, daß Mädchen durchaus nicht jene blöden Gänse waren, die wir wegen ihres albernen Getues und Gekickers grob und handgreiflich weggescheucht hatten, wenn sie an unseren wilden Spielen teilnehmen wollten...
Auch Mutter hatte mit der Zeit mit Bartenstein Frieden geschlossen, nur mit der Wohnung im Amtsgericht versöhnte sie sich nie. Leider war unser Kalfaktor Bradzio inzwischen aus der Haft entlassen worden. Da Mutter sich in den Keller nicht hinunterwagte und Großmutter trotz ihrer Rüstigkeit nicht zumuten konnte, Kohlen, Briketts und Torf heraufzuschleppen, wurde das - mit einer kurzen Unterbrechung - für die nächsten Jahre meine Aufgabe. Durch die Vermittlung einer der Damen vom Lande, die Mutter zuerst mit Strickdecken und später sogar mit Kelim-Kissen und Brücken von beträchtlichem Format belieferte, bekamen wir ein Dienstmädchen, die Frieda. Mein Gott, war das ein Trampel! Zweimal stolperte sie mit der vollen Suppenterrine über die Schwelle und verbrühte dabei Großmutter einmal den Fuß, daß sie ihn wochenlang im Verband tragen mußte. Sie zerschlug Unmengen von Porzellan, und ihr Umgang mit dem Gasherd bedeutete ständige Explosionsgefahr. Aber sie genoß das ungewohnte Stadtleben in vollen Zügen und ersparte es Mutter, sie wegen ihres Lebenswandels an die Luft zu setzen, indem sie eines Tages verschwand und verschwunden blieb. Dem Amtsgericht schräg gegenüber lag der Gasthof Steffens, und hinter diesem Gasthof befand sich ein großer freier Platz, auf dem die Viehmärkte abgehalten wurden. Manchmal aber schlugen dort auch Schausteller ihre Buden und Karussells auf, und wir erfuhren nach kurzer Zeit - denn Vater hatte Friedas Verschwinden der Polizei gemeldet -, daß sie mit einem Burschen, der auf dem Jahrmarkt als Degenschlucker auftrat, durchgebrannt war und, selber künstlerische Ambitionen entwickelnd, mit einem Python auf Schlangentänzerin studierte.
In einem dieser Sommer machte meine Schwester Lotte zu Anfang der Großen Ferien bei uns für einige Tage Station.
Sie war noch immer in Sonnenborn als Lehrerin tätig und fühlte sich in ihrem Dorf wohl, besonders, nachdem es ihr gelungen war, ihrer besten Freundin, Clara Cacharowski, mit der sie das Oberlyceum besucht hatte, in Sonnenborn eine freie Lehrstelle zu besorgen. Dort lebten die beiden jungen Frauen in einer kleinen Wohnung zusammen und hatten beschlossen, die Ferien gemeinsam an der Ostsee in Kranz zu verbringen. Zwei Mädchen allein in Kranz - das paßte Vater gar nicht, aber er schnaufte nur tief auf und schluckte seine Bedenken schließlich hinunter. Schließlich war Lotte volljährig und sehr selbständig geworden. Ich schleppte ihren Koffer zur Bahn und holte sie nach vier Wochen auch wieder ab, aber sie kam nicht allein, sondern in Begleitung eines Herrn, dessen möglichen Besuch sie Mutter in einem nur für Mutter bestimmten Brief angekündigt hatte. Sie stellte mich dem fremden Herrn vor, und dabei bemerkte ich an ihrer Hand einen funkelnagelneuen Verlobungsring...
»Also, Karl, das ist mein Brüderchen...« und zu mir: »und das ist Herr Professor Dr. Karl Völcker, mit dem ich mich verlobt habe. Du kannst ihn mit Herr Professor anreden...«
Nun, ich war es ja gewohnt, zu meinen Schwägern in respektvollem Abstand gehalten zu werden; bei Else war es >Onkel Richard< und hier nun der »Herr Professor<; vielleicht wurde aus ihm einmal ein >Onkel Karl<. Direkt respekteinflößend sah dieser Professor meinem Gefühl nach nicht aus. Lotte war ein
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