Abschied und Wiedersehen
Fleischer, deren Eltern der >Königsberger Hof< gehörte, Hanna Vonberg oder Hilde Sczekay wären jederzeit bereit gewesen, Stein und Bein zu schwören, daß Kätchen sich bei ihnen zur Erledigung der Schularbeiten aufgehalten hätte, wenn Kätchens Vater auf den Gedanken gekommen wäre, den immer häufiger werdenden Nachmittagsausflügen seiner Tochter zu mißtrauen. Und oben auf der Schwedenschanze, wo es in lauschigen grünen Nischen Bänke gab, die den Wanderer zum Verweilen einluden, erlaubte mir Kätchen den ersten Kuß, einen Kuß mit harten, fest geschlossenen Lippen, die sie sich hinterher mit dem Handrücken gründlich trockenrieb. Ich fürchte fast, daß sie von jenen Vorgängen, die dazu führen, daß auch Mädchen zu einem Kind kommen können, nur sehr verschwommene Vorstellungen hatte und mit dem Trockenlegen der Lippen auf Sicherheit ging.
»Ich weiß nicht«, sagte sie dabei ein wenig atemlos, »aber du bist mir ein bißchen zu stürmisch...«
Leider war es mit den heimlichen Rendezvous im Freien bald vorbei, denn der Novemberhimmel öffnete seine Schleusen, und die Stürme eines früh einbrechenden Winters entlaubten die herbstlich verfärbten Bäume und auch jene freundlichen Sträucher, die die Bänke und die Liebespaare so lange vor neugierigen Blicken geschützt hatten. Dafür erschien mit Genehmigung des Direktorats auf dem schwarzen Brett ein Anschlag, in dem Frau Wanda Aderjahn sich anzuzeigen beehrte, daß demnächst ein Tanzkurs stattfinde und daß die an einem solchen Kurs interessierten Herren Obersekundaner und Primaner höflichst eingeladen seien, daran teilzunehmen. Neben dem Unterricht im klassischen und im modernen Gesellschaftstanz (Quadrille, Walzer, English Valse, Tango, Foxtrott, One-step und Two-step) werde der Belehrung über gute Umgangsformen und gesellschaftlichen Schliff besonderer Wert beigemessen. Und das schien mit ein Grund zu sein, weshalb uns auch von Direktor Kröhnert und den Herren vom Lehrkörper der Besuch der Tanzstunde warm empfohlen wurde. Mit Ausnahme unseres Primus Röder, der wegen seiner nässenden Pickel Hemmungen hatte, meldeten wir uns geschlossen bei Frau Aderjahn an. Und geschlossen meldete sich auch die letzte Lycealklasse zu dem Kurs. Der Unterricht fand im Rathaussaal statt, und er bereitete manchem von uns insofern eine Enttäuschung, als die Mütter unserer Tanzdamen jedesmal geschlossen anrückten und auf einer Stuhlreihe an der Längswand des Saales, dem Drachenfels, eisern ausharrten und mit ihren Töchtern abzogen, wenn Frau Aderjahn die Stunde für beendet erklärte. Sie erschien mit dem Sechs-Uhr-Zug und fuhr um zehn nach Königsberg zurück, wo sie in der Luisenallee in einem großen Haus residierte.
Die Musik zu unseren Tanzversuchen steuerte Kantor Bolutus bei, auf einem uralten, arg verstimmten Piano, in das schon manches Glas Bier hineingeschüttet worden war, wenn bei den Festen des Schützenvereins die Wogen der Fidelitas überschäumten. Den Organistenposten hatte der Kantor der wahrhaft christlichen Toleranz unseres Superintendenten zu verdanken, denn es war kein Geheimnis, daß er soff. Sein Name stand auf den sogenannten Säuferlisten, die vom Landrat v. Gottberg unterschrieben, von den Wirten in allen Lokalen des Landkreises deutlich sichtbar aufgehängt werden mußten. Deshalb lautete die Antwort auf die Scherzfrage, wer die größten Säufer von Bartenstein und Umgebung wären: Der Kantor Bolutus und der Landrat v. Gottberg, da beide Namen ständig auf der Säuferliste zu finden seien. Wahrscheinlich gab es einige Gastwirte, die es mit dem Verbot, an die auf der Liste namentlich aufgeführten Personen Alkohol auszuschenken, nicht sehr ernst nahmen, denn wenn der Kantor wieder einmal sein Quartal hatte, irrten seine Frau und seine Tochter, zwei verschüchterte graue Mäuse, durch die Lokale, um den Trunkenbold heimzuschleppen. Er gehörte zu den stillen Zechern und randalierte auch nicht, wenn Frau und Tochter sozusagen fündig wurden und ihn mit sanfter Gewalt aus der Kneipe zerrten. Ein gereizter Papagei hatte ihm vor langen Jahren in den Mittelfinger der rechten Hand gehackt und den Finger dabei so übel zugerichtet, daß er krumm und steif geblieben war. Das behinderte ihn aber weder an der Orgel noch am Klavier, im Gegenteil, wenn es der Rhythmus eines Two-steps oder Tangos erforderte, schlug er mit diesem eisenhart gewordenen Fingerknöchel die Synkopen unüberhörbar gegen den Klavierdeckel. Im Hotel zur grünen Wiese
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