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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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Dachboden eine kleine Bude eingerichtet; sie war recht sparsam möbliert, ein Bett, ein Schrank, ein Regal mit Büchern, und an der Wand über seinem Bett hingen um zwei gekreuzte Säbel seine alten Pennälermützen von der Sexta bis zur Sekunda herum. Er sah ein bißchen fiebrig aus, auch das Sprechen schien ihm Schwierigkeiten zu bereiten. Er bekam die Zähne nicht richtig auseinander... »Na, Dicker, was ist los mit dir? Das wird doch nicht von der Wunde kommen?«
    »Ach Quatsch! Morgen bin ich wieder auf dem Damm. Ich habe beim Holzmachen wie ein Pavian geschwitzt, und der Wind zog ziemlich kalt um die Ecke. Du weißt ja, ich hab’s immer gleich mit den Mandeln...«
    »Und was macht die Hand?«
    Er streckte sie mir entgegen: »Das sah im ersten Moment schlimmer aus, als es war. Die Wunde suppt überhaupt nicht mehr und heilt schon zu.«
    Ja, der kleine Verband war sauber, und am Arm deutete nichts darauf hin, daß da etwa eine Blutvergiftung im Anzug sein könnte.
    »Also, edler Greis, dann mach es gut.«
    Er grinste mir zu, und ich hörte seine Zähne klappern: »Im Chor mache ich auf jeden Fall mit! Aber bestell dem Schott, daß die Flöte ausfällt.«
    Ich ging. Unten fragte mich Frau Klahr, wie es dem Alfred ginge. Ich sagte, daß eine Blutvergiftung wohl nicht zu befürchten sei...
    »Ich wollte ihn ja zum Doktor schicken, aber mein Mann hat was gegen die Doktors. Die Kosten... Na ja, wer rennt schon gleich zum Arzt, wenn er sich beim Kartoffelschälen in den Finger schneidet...«
    Ja, unsere Väter waren sparsame Leute. In dieser Hinsicht gab meiner dem Vater von Alfred nichts nach. Es war noch keine vier Wochen her, daß Mutter sich eine ziemlich grobe Häkelnadel in den Daumenballen gejagt hatte. Ihre Versuche, die Nadel mit dem Widerhaken herauszuziehen, gab sie bald auf, denn da hätte sie wohl einige Muskelfasern und Sehnen mitgezogen. Aber deswegen zum Arzt? Vater sah sich die Sache an, kaute ein bißchen an seinem Schnurrbart und sagte: »Nun beiß mal für ’nen Moment die Zähne zusammen, Linchen«, und bevor Mutter dazu kam, einen Schrei auszustoßen, hatte er ihr bereits die Nadel vollends durch das dicke Fleisch getrieben und mit einem kurzen Ruck herausgezogen. »Na also«, sagte er befriedigt, »das hätte der Doktor auch nicht anders gemacht, aber dafür hättest du mindestens zehn Mark blechen müssen.«
    Am nächsten Tag wurde Alfred Klahr ins Krankenhaus eingeliefert, und fünf Tage später war er tot. Tetanus. Ein qualvolles Ende. Am Donnerstag wurde er auf dem Friedhof an der Rastenburger Chaussee beerdigt. Die ganze Schule folgte dem Sarg. Superintendent Nietzki hielt die Trauerandacht. Herr Schott schlug die Stimmgabel gegen einen Grabstein, hielt sie ans Ohr, gab den Ton, und der Chor stimmte das >Integer vitae< an. Dann sprach der Chef mit bewegter Stimme, daß die Götter früh zu sich nähmen, wen sie liebten, flocht einige Verse aus Schillers Nänie in seine kurze Rede, und dann senkten sie den Sarg in die Grube.
    Ich kann mich nicht daran erinnern, daß der Konfirmationsunterricht und die Konfirmation selber bei einem von uns einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben. Den Unterricht, der hauptsächlich aus dem Auswendiglernen von Katechismus, Bibelstellen und Kirchenliedern bestand, empfand man wie jeden Unterricht als lästige Pflicht und die Konfirmation als ein Ereignis, das man über sich ergehen lassen mußte, weil es nun einmal so Brauch war. Wir befanden uns in dem Alter, in dem wir nicht nur unsere Väter mit kritischen Augen betrachteten und ihre Autorität in Frage stellten, wir waren gerade dabei, alle Götter von ihren Postamenten zu stürzen. Wir lasen Zarathustra und Haeckels Welträtsel, und sie bestätigten uns, was wir längst geahnt hatten, daß Gott eine Pfaffenerfindung und die Erschaffung der Welt als ein Akt göttlichen Willens reine Ammenmärchen waren. Und da redete nun der eine von den beiden alten Schwachköpfen bei diesem sinnlosen Tod von Gottes Güte, an der man nicht zweifeln dürfe, wenn auch seine Absichten dem menschlichen Verstand verborgen blieben, und der andere beschwor die Götter Homers herauf und tat gerade so, als ob Alfred so jung in den Olymp abberufen worden sei, um Ganymed als Mundschenk abzulösen. Himmelarschundwolkenbruch, eine Spritze Tetanus-Serum zur rechten Zeit, und der Chef hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen, drei Tage vor dem Jubiläum einen Ersatz für den Chorführer zu finden, genausowenig Sorgen wie der

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