Abschied und Wiedersehen
das Klassenziel im zweiten Anlauf zu erreichen, in Rauch aufging.
»Tcha«, meinte er, »damit hätten wir es denn wohl...« Er muß mir angesehen haben, daß mir die Flügel gebrochen waren: »Oder kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Ach, Herr Direktor«, stammelte ich verzweifelt, »wenn Sie niemand etwas sagen würden, daß Sie es mit mir aufgegeben haben...«
»Und was soll das bezwecken?« fragte er mit gerunzelten Brauen.
»Vielleicht, daß Herr Studienrat Bluhm mir nur eine Vier gibt, wenn er meint, daß Sie mir weiter Nachhilfestunden geben..«
Einen Augenblick lang sah es ganz danach aus, als ob er mich beim Kragen packen und an die frische Luft befördern würde. Dann kaute er eine Weile stumm und mit rotem Kopf an dem Mundstück seiner Pfeife herum, brachte die halb erloschene Glut wieder in Brand und nebelte mich in eine gewaltige Rauchwolke ein: »Hauen Sie ab, Mensch!« knurrte er, »machen Sie, daß Sie verschwinden! Aber wenn Sie meinen, daß Ihnen diese Gaunerei beim Kollegen Bluhm etwas nützt... Na schön, von mir aus! Aber jetzt nichts wie raus! Raus!!!«
Wenn nun der verdammte Bluhm auch annehmen mochte, daß die Nachhilfestunden fortgesetzt würden, anmerken ließ er sich nichts. Er behandelte mich nach wie vor, als ob ich Luft und nicht vorhanden sei. Die Wochen, die vor dem Ostertermin lagen, zogen sich endlos dahin. Schwere Tage, sorgenvolle Tage, dunkle Tage, in denen ich mit dem schweren russischen Naganrevolver, den ich als Kriegsandenken aus Lyck mitgebracht hatte, zwischen den bizarren, oftmals vom Blitz zerspellten und angekohlten Weiden durch tiefen Schneematsch zum Bärenwinkel hinausstapfte, um in der Schlucht, die dort zur Alle hinabstürzte, die Waffe auszuprobieren. Der Knall war ohrenbetäubend, und der Rückstoß so heftig, daß ich mir das Gesicht blutig schlug. Aber es beruhigte mich, zu wissen, daß ich mich auf die Waffe verlassen konnte. Und kein Ort schien mir geeigneter, meinem verpfuschten Leben ein Ende zu machen, als der Grabhügel, unter dem Alfred Klahr vermoderte. Ich besuchte ihn oft, die Leiden des jungen Werthers in der Tasche, daraus ich ihm diesen und jenen Abschnitt vorlas. Aufs Vorsatzblatt schrieb ich, daß man mich an seiner Seite bestatten möge. Ich meinte es furchtbar ernst...
In der frühen Dämmerung eines naßkalten Februartages sprach mich bei solch einem Friedhofsbesuch eine Dame an, der ich auf dem Friedhof schon einige Male begegnet war. Sie besuchte ein Grab auf der anderen Seite des Hauptweges, auf dessen verschneite Steinplatte sie einen kleinen Kranz von Strohblumen gelegt hatte. Ich hätte gern erfahren, um wen sie Trauer trug, aber ich wagte es nicht, den Schnee von dem Stein zu fegen. In der Stadt hatte ich sie noch nie gesehen, aber die wenigen Begegnungen auf dem Friedhof oder auf dem Wege zum Friedhof, bei denen mich ihre dunklen, unter einem schwarzen Halbschleier geheimnisvoll verborgenen Augen flüchtig gemustert hatten, genügten, um mich um die schöne Unbekannte einen kleinen Roman spinnen zu lassen. Sie trug einen schwarzen, seidigen Sealpelz und eine kleine Kappe vom gleichen Fell, die ihre Ohrmuscheln frei ließ. Sie schimmerten unter dem Schleier matt wie Elfenbein. Die Haarlocken im Nacken und an den Schläfen waren schwarz wie Rabenfedern. An diesem Tage trafen wir auf dem Hauptweg kurz vor dem Friedhofstor zusammen, ich öffnete die Pforte und gab ihr höflich den Vortritt. Sie nickte mir dankend zu und blieb, als ich die schmiedeeiserne Gittertür ins Schloß gedrückt hatte, vor mir stehen und drehte sich halb zu mir um.
»Wen besuchen Sie hier?« fragte sie, »der Hügel ist frisch aufgeschüttet und noch ohne Stein. Haben Sie Ihren Vater oder Ihre Mutter verloren?«
»Nein, gnädige Frau, einen Freund. Alfred Klahr...«
»Ach Gott«, sagte sie, »ich habe von der schrecklichen Geschichte gehört. Es war Starrkrampf, nicht wahr?«
»Ja, eine Verletzung an der Hand, keine besonders schlimme Wunde, aber dann kam der Tetanus dazu...«
»Er war Ihr Freund...«
»Ja, gnädige Frau, eigentlich von der Minute an, in der wir uns zum ersten Mal begegneten. Wir waren noch Jungens...«
Sie sah mich durch den Schleier von der Seite an: »Darf ich fragen, wie alt oder wie jung Sie jetzt sind?«
»Siebzehneinhalb, gnädige Frau...«
»Besuchen Sie das Gymnasium?«
»Ja, die Obersekunda - und leider zum zweiten und vielleicht zum letzten Mal. Ich bin nämlich ein mathematischer Idiot. Nicht faul oder nur
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