Abschied und Wiedersehen
Teil, dessen Handlung sich ohne Kulissen nur auf verschiedenen Bühnenebenen abspielte, die durch Treppen miteinander in Verbindung standen. Das Publikum schwankte zwischen frenetischem Beifall und wütendem Protest. Ich klatschte, daß mir die Hände noch in Bartenstein weh taten, das mir noch nie so klein und provinziell erschienen war wie nach diesem Erlebnis. Immerhin empfingen die Eltern mich mit einer erfreulichen Nachricht. Vaters Versetzungsgesuch nach Königsberg war positiv beschieden worden, er sollte seine Dienstgeschäfte dort zu Ostern wiederaufnehmen. Weniger erfreulich war, daß ich ihm einmal wieder Sorgen bereitete. Denn zu Weihnachten war ein >blauer Brief< ins Haus geflattert - den abzufangen und mit Vaters Unterschrift zurückzusenden mir leider nicht gelungen war -, daß meine Versetzung durch die ungenügenden Leistungen in Mathematik auch zum zweiten Mal gefährdet sei. Vaters Stirnader war bedrohlich angeschwollen, als er seine Unterschrift unter den >Blauen< setzte.
»Dein Bruder Ernst hat mir wahrhaftig Sorgen genug gemacht«, knurrte er mich an, »andere Sorgen, - aber eins kann ich ihm nicht nachsagen, daß er ein Idiot war. Mathematik fünf! Damit kannst du nicht einmal eine Lehre als Maurer oder als Tischler antreten!«
Das Fatale dabei war, daß er recht hatte. Beim Bummel durch die Langgasse hatte ich zu meiner Verblüffung im Schaufenster der Tack-Filiale einen Zettel entdeckt, auf dem zu lesen stand, daß man einen jungen Mann mit Abitur als kaufmännischen Lehrling suche. Ich sah düsteren Zeiten entgegen. Studienrat Bluhm um die Ecke zu bringen, hatte wohl nicht viel Zweck...
»Würde es etwas nützen, wenn dir jemand Nachhilfestunden geben würde?« fragte Vater mit finsterem Gesicht.
Mutter seufzte auf; die Erinnerung an das Loch in ihrer Haushaltskasse, das der Nachhilfeunterricht bei Fräulein Schwendowius gerissen hatte, als ich, durch den Russeneinfall in Lyck überrollt und festgehalten, auf Quinta eine Menge Latein nachzuholen hatte, schien sie sehr zu bedrücken. Da kam mir ein Einfall, von dem ich mir Rettung versprach. Beim Abschied von Königsberg hatte mir Onkel Richard aufgetragen, seinem Freund und Bundesbruder Mollenhauer, falls ich ihn zufällig träfe, Grüße auszurichten. Beide waren Alte Herren der Verbindung >Cimbria<, der auch mein Bruder Ernst angehört hatte. Richard und Herr Mollenhauer waren Consemester und hatten an der Albertina Mathematik studiert. Wenn nun Mollenhauer, Direktor des Lyceums, mir Nachhilfestunden gab, dann konnte doch der verdammte Bluhm, ohne ihn zu blamieren, mir kein Ungenügend ins Osterzeugnis schreiben. Zumindest war das eine Kalkulation, die man nicht von der Hand weisen konnte. Ich hütete mich, diesen Gedanken vor Vater laut werden zu lassen; er hätte ihn glatt in die Nähe einer erpresserischen Handlung gerückt. Gerade beglückt war Vater von meinem Vorschlag nicht, aber er schrieb noch am selben Abend einen Brief an seinen Schwiegersohn Richard, bei Dr. Mollenhauer für mich ein gutes Wort einzulegen. - »Koste es, was es wolle!« sagte er grimmig. Wenige Tage danach konnte ich mich Herrn Dr. Mollenhauer vorstellen. Er war ein Zweizentnermann und mit einer Walküre verheiratet, die ihm zwei Töchter geschenkt hatte, wahre Riesenkinder, denen man schon jetzt ansah, daß sie ihre Eltern an Größe und Gewicht bald eingeholt haben und in Zukunft womöglich noch übertreffen würden. Er empfing mich in seinem Arbeitszimmer und schien von der Aufgabe, zu der er sich aus Freundschaft zu Richard hatte breitschlagen lassen, nicht besonders beglückt zu sein. Aber meine Befürchtung, er könne sich inzwischen bei Herrn Bluhm über mich und meine Möglichkeiten erkundigt haben, war unbegründet. Er nahm mich für zwei Stunden pro Woche an, und ich beeilte mich, die Nachricht von den Nachhilfestunden bei Herrn Mollenhauer in der Klasse zu verbreiten, in der sicheren Annahme, daß auch Herr Bluhm in Kürze erfahren würde, wer sich jetzt um mich bemühte. Um es gleich vorwegzunehmen, nach der vierten Stunde gab Herr Mollenhauer den Versuch, mir etwas beizubringen, als völlig hoffnungslos auf. So etwas von vernageltem Gehirn war ihm in seinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Er war ehrlich erschüttert.
»Ich hätte Ihnen wirklich gern geholfen«, sagte er kopfschüttelnd, »aber ein Faß ohne Boden kann man nicht auffüllen. Das müssen Sie einsehen.«
Ich sah es ein, und ich sah leider auch, daß damit die letzte Hoffnung,
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