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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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oder so hart anpacken sollen.
      «Ich will bloß mein Buch holen», sagte sie.
      «Red nicht in so einem Ton mit mir.»
      «Ich muss mein Buch holen.»
      «Das ist schon besser.» Ihre Mutter stand auf und kam zu ihr. «Ich hol's dir. Was für eins ist es?»
      «Es gehört Ella. Das mit dem Drachen auf dem Umschlag.»
      Ihre Mutter ging rauf und ließ sie stehen. Als sie mit dem Buch wieder runterkam, bat sie Sarah, mit ihr ins Nebenzimmer - Grandmas Zimmer - zu kommen.
      «Ich weiß es wirklich zu schätzen», sagte sie, «dass du für deinen Bruder eintrittst. Das finde ich wichtig. Und ich weiß auch, wie viel du zu Hause für ihn tust, wie gut du dich um ihn gekümmert hast, als ich krank war.»
      Du warst nicht krank, dachte Sarah.
      «Aber Schatz», fuhr ihre Mutter fort, «so gern du das auch tun würdest, du kannst nicht alle Kämpfe für Justin ausfechten. Er muss lernen, auf eigenen Füßen zu stehen.»
      Sarah stritt sich nicht mit ihr, sagte kein Wort.
      «Okay», schloss ihre Mutter, «das wollte ich dir bloß sagen.»
      Ihre Unterredung war vorbei, die Sache erledigt. Sarah sollte ihr ins Wohnzimmer folgen. Doch sie blieb, wo sie war, verdutzt und wütend über das bescheuerte Verhalten ihrer Mutter.
      Es stimmte nicht, obwohl ihre Mutter das nicht glauben würde. Doch das Ganze war es nicht wert zu riskieren, dass ihre Mutter sie hier und jetzt schlug oder, noch schlimmer, sich heulend an ihr festklammerte und sagte, es täte ihr Leid, es wäre alles ihre Schuld, womit sie - in Wirklichkeit - meinte, die von Sarahs Vater. Wenn ihre Mutter betrunken gewesen war oder bloß so deprimiert, dass sie nicht aus dem Bett kam, hatte Sarah gelernt, dass die einzige Möglichkeit für sie und Justin, das Ganze zu überstehen, darin bestand, ihre Kämpfe zusammen auszufechten. Aber das konnte sie ihr nicht sagen.
     
     
* 10
     
    Es war ein Reflex, etwas, das sie schon ein Leben lang kannte - die Ansichtskarte wartete in der anderen Hand -, doch sobald Emily an der Briefmarke leckte, begriff sie, dass es unnötig war.
      «Ih», sagte sie und wischte sich mit den Fingern über die Lippen, obwohl es eigentlich nach nichts schmeckte und sie sich bloß dumm vorkam.
      Manchmal wusste sie nicht, wo sie mit ihren Gedanken war. Sie notierte irgendetwas auf dem Kalender und entdeckte es einen Tag zu spät. Henry hatte sie ständig gerügt, weil sie den Herd nicht ausgeschaltet oder vergessen hatte, Rufus wieder ins Haus zu lassen. Selbst Arlene hatte damit angefangen und ermahnte sie jedes Mal, wenn sie zusammen irgendwohin fuhren, nachzusehen, ob ihre Schlüssel in ihrer Handtasche waren. Die leidige Zweckmäßigkeit der Maxwells. Es tat ihr Leid, aber so war sie nicht veranlagt. Sie brauchte ihre Listen.
      Selbstklebende Briefmarken. Sie konnte sich noch an eine Zeit erinnern, als eine Ansichtskarte zwei Cent kostete und es noch keine Postleitzahlen gab. Oder Computer und Handys, dachte sie. Die Welt, die sie kannte, war verschwunden - vielleicht noch da, aber überlebt, unbeachtet wie Kersey, das in der langen Ödnis zwischen den Ausfahrten der Interstate lag, die ihr immer neu vorkommen würde, obwohl die Straße bestimmt fast fünfzig Jahre alt war.
      Bis Ende dreißig war die Zeit ihre Freundin gewesen, doch dann hatte sie sich gegen sie gestellt.
      Sie würde nicht wegen einer albernen Briefmarke trübsinnig werden, nicht im Urlaub. Der Regen hatte nicht nachgelassen, doch sie hatte sich um die Listen gekümmert, die Müllabfuhr war endlich gekommen, und jetzt hatte sie auch die Ansichtskarte geschrieben, die sie Louise versprochen hatte. Wenn der Briefträger sie heute mitnahm, müsste sie Freitag, spätestens Samstag ankommen - falls sie sie rechtzeitig zum Briefkasten brachte.
      Im Wohnzimmer beobachtete Rufus, wie Sarah und Justin auf dem Fußboden Schach spielten und Ella und Kenneth sich mit dem Rand des Puzzles abmühten. Arlene und Margaret blickten nicht von ihren Büchern auf. Lisa versteckte sich anscheinend oben. In der Wettervorhersage hieß es, es würde am nächsten Tag wieder regnen, und Emily hatte keinen Schimmer, was sie dann tun würden.
      Sam war in der Küche und schraubte eine der Plastikflaschen mit Kool-Aid auf, die ihre Recyclingtonne anfüllten, schleimig grün wie Frostschutzmittel, der reine Zucker. Es war halb elf, und soweit sie sehen konnte, hatte ihm seine Mutter noch kein Frühstück gemacht.
      «Hast du einen

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