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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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alte Hotel, die Garage, das Putt-Putt, der Friedhof - all das gehörte zur selben verblassten Jahrhundertwendewelt von Chautauqua, und er sah kurz eine Ausstellung vor sich, ein Buch, ein Lebenswerk, das alles hier dokumentierte und eine Bibliothek bildete, aus der man die wirkungsvollsten Bilder auswählen konnte. Ihm gefiel die Vorstellung von einem größeren Projekt, das nicht so schnell zu verwirklichen war. Fotografiere genug, dann kommt schon was, hatte Morgan gesagt. Vielleicht brauchte Ken genau das.
      Nein, es war lächerlich, schwülstig, und zu sehen, wie er sich auf diese Möglichkeit stürzte, ließ ihn verzweifeln.
      Die Farmstände waren geschlossen, doch das Gas-n-Go hatte geöffnet, als wäre nichts passiert, alle Zapfsäulen besetzt. Im Schaufenster leuchtete die Neonreklame für Bier. Weder neben der Eismaschine noch bei dem Käfig mit den Propantanks war ein Streifenwagen geparkt, dort stand bloß ein rostiger Subur-ban, ein verbeulter Pickup. Ken hatte erwartet, dass es schauerlicher aussehen würde.
      An der Straße nach Mayville hing ihr Gesicht an allen Masten, klebte am Schaufenster eines Frisiersalons, an der Tür eines dunklen Jumbo-Sandwich-Ladens. Es war eine ruhige Kleinstadt, ein rückständiges Nest mit einem dorischen Gerichtsgebäude und zwei Blocks morscher viktorianischer Häuser, umgeben von einem hügeligen Gitternetz aus Bungalows mit Zwischenstockwerken, einem Bezirk voll bankrotter Milchfarmen, deren Felder wieder von Ambrosia und Disteln beherrscht wurden. Ken glaubte nicht, dass sie noch hier war, irgendwo im Keller versteckt, eingesperrt in einer triefnassen Scheune.
      Die Straße beschrieb eine Kurve, bog scharf ab, und die Main Street führte vom See herauf wie eine Bootsrampe. Das Golden Dawn war anscheinend das einzig gut gehende Unternehmen in der Stadt, doch als er auf den leeren Parkplatz vor dem True Value bog, brannten die Lichter, und die Ladenfassade strahlte Gemütlichkeit aus. Der Gehsteig der abfallenden Straße war erhöht und durch ein Geländer aus schwarzem Rohr gesichert; Ken musste ein paar bröckelige Stufen raufsteigen, bevor er zur Eingangstür gelangte.
      Die Tür läutete hinter ihm, der Duft von kostenlosem Popcorn begrüßte ihn im Innern des Ladens. Vor langer Zeit hatte der Inhaber eine Maschine wie im Kino eingebaut, was die Fahrt zum Laden für Ken als Kind immer zu einem Highlight gemacht hatte. Seit er sich erinnern konnte, war er jeden Sommer mit seinem Vater hergekommen, eine rein männliche Wallfahrt, um sich mit Sicherungen, Mäusegift, Fliegengitter einzudecken - all das, womit das Sommerhaus renoviert worden und jetzt die Garage voll gestopft war. Sein Vater hatte gewusst, wo sich alles befand, war durch die Gänge gestreift, als würde er dort arbeiten, doch für Ken ergab die Ordnung des Ladens keinen Sinn. Er lief an den Regalen entlang wie eine Laborratte - ständig in Versuchung, die Holga zu benutzen -, bis er in einem abgelegenen Winkel auf eine Wand aus großen Dosen voll Insektengift stieß. Bei dreien las er sorgfältig die Aufschrift, wog ihre Bestandteile gegeneinander ab und entschied sich schließlich für eine mit der Karikatur einer toten Ameise vorn drauf.
      Seine Mutter hatte es damit so eilig gehabt, dass sie ihm kein Geld mitgegeben hatte. Er fand, es war ziemlich billig.
      Die Frau an der Kasse tippte es worüos ein, und Ken erinnerte sich, wie sich sein Vater mit dem Inhaber unterhielt, den er wahrscheinlich gekannt hatte. Bloß Geplauder, übers Wetter, den Wasserstand des Sees, aber es hatte eine Beziehung bestanden, eine nachbarliche Vertrautheit, von der Ken bei diesem Einkauf nichts spürte. Die Frau war älter und trug ein Bills-Sweatshirt, und obwohl sonst niemand im Laden war, wirkte sie verärgert, als hätte sie etwas anderes zu tun. Als er ihr dankte, kamen die Worte nur krächzend hervor, als hätte er seit Monaten nichts mehr gesagt.
      An dem schwarzen Brett neben der Tür hing das Flugblatt, und ihm ging plötzlich auf, dass er auch zu Tracy Ann Caler, wenn sie da gewesen wäre, nichts außer seinem erstickten Danke gesagt hätte. Während er das schlechte Foto von ihr betrachtete, wurde ihm klar, dass er ihr noch nie begegnet war, noch nie mit ihr gesprochen, sie noch nie gesehen hatte. Doch seltsamerweise gehörte sie ihm deshalb erst recht. Sie war sein Geheimnis, als hätte er sie eigenhändig entführt.
      Das Gefühl, dass er irgendwie verantwortlich war, und sei es

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