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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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über den Hyundai-Streik berichtet, als ein Molotowcocktail einen Soldaten traf, der zwischen die Kampflinien geraten war. Eine Woge von Streikenden wälzte sich vor, und die Soldaten ließen ihren Kameraden im Stich. Die Bilder, die Larrimore davon machte, wie die Menge den Mann zu Tode trampelte, waren für das Cover von Newsweek zu anstößig, doch bis zum Jahresende waren sie überall zu sehen, und Larrimore erhielt den Pulitzer-Preis. «Im richtigen Moment am richtigen Ort», sagte Morgan, als Ken über Larrimores Glück meckerte. Und überhaupt, sagte Morgan schulterzuckend, das sei eine völlig andere Art von Fotografie. Ken müsse einfach an seinen eigenen Sachen arbeiten.
      Und das hatte er damals auch eifrig getan, überzeugt, dass seine Anstrengungen belohnt werden würden, und dann verwirrt, als es anders kam. Er hatte immer als vielversprechend gegolten, schon seit seiner Kindheit - Intensivkurse, gute Hochschulaufnahmeprüfung, Dean's List -, doch jetzt, mit knapp vierzig, konnte er sich nicht mehr als vielversprechend bezeichnen. Wenn er je gute Aussichten gehabt hatte, dann hatte er sie vertan. Der Beweis war unwiderlegbar. Er hatte nichts geleistet, und der Verdacht, dass er die ganze Zeit ein Idiot, ein Hochstapler gewesen war, ließ ihm trotz Morgans Versicherungen keine Ruhe.
      Es war ein dunkler Tag, die Bäume schwenkten ihre Zweige, und von Norden zog ein Gewitter heran. Das Putt-Putt kam, dann der Friedhof, das hohe Gras rings um die Grabsteine von der Last des Regens zu Boden gedrückt, nasse, vom Memorial Day übrig gebliebene Fahnen, die Masten voll Bronzesterne. Sein Vater hatte ihn nicht für einen Versager gehalten, da war er sich sicher, und doch schienen sich seine Gedanken in den letzten Monaten nur um diese Vorstellung zu drehen, schien er wie bei einem Grind nicht davon ablassen zu können. Einmal hatte ihm Ken seine Dunkelkammer gezeigt - aufgeräumt wie die Werkbank seines Vaters - und ihm das Entwicklungsverfahren vorgeführt. Die einzelnen Schritte, die Genauigkeit der chemischen Zusammensetzung hatten seinen Vater wie immer beeindruckt, und er hatte Ken zu dem Bild beglückwünscht (sein Vater im Profil in seinem Lieblingssessel beim Lesen des Wirtschaftsteils der Post-Gazette). Er war aufrichtig gewesen, denn das Foto war eins seiner Lieblingsbilder geworden und hing oben im Flur, gegenüber vom Bad. An Thanksgiving würde Ken das Foto sehen und seine eigene Komposition bewundern, würde bewundern, wie das Licht in der Halbbrille funkelte, die auf der Nase seines Vaters saß, ein glücklicher Zufall.
      Sein Vater war nicht ehrgeizig gewesen (was seine Mutter sehr geärgert hatte, wie Ken später herausfand). Sein Vater war jeden Morgen mit dem Bus in die Innenstadt gefahren, hatte jeden Abend seine Aktentasche nach Hause geschleppt. Erfolg hatte für ihn bedeutet, Zeit zum Nichtstun zu haben. Glücklichsein war für ihn Angeln oder im Herbst - die Blätter zu hohen Haufen zusammengeharkt - sonntagnachmittags gemütlich in seinem Sessel zu sitzen und Zeitung zu lesen, während ein Baseballspiel lief. Es war dieses Ideal von Ruhe und Frieden, das Meg als selbstgefällig verachtet und seine Mutter als sein gutes Recht verteidigt hatte. Doch sein Vater hatte von ihnen allen die geringsten Ansprüche gestellt, war mit ihren guten Noten zufrieden gewesen und hatte Verständnis gezeigt, wenn sie bei einem Test versagten. Wenn Ken ihn mit einem überwältigenden, unerwarteten Triumph überraschen wollte, wie es Meg mit ihrer Widerspenstigkeit gelungen war, dann war es jetzt zu spät. Jetzt stellte er nur noch sich selbst zufrieden - oder Lise, obwohl er sich wirklich nicht vorstellen konnte, dass sie je wieder von ihm beeindruckt sein würde.
      Ich sollte eher wie mein Vater sein, dachte er. Das wäre die richtige Art, ihn zu ehren, und nicht, vom Pulitzer-Preis zu träumen.
      Das Radio rauschte plötzlich. Er schaltete es aus, als würde es ihn beim Nachdenken stören. Für den Regen fuhr er ziemlich schnell, überprüfte auf der Uhr im Armaturenbrett, wie lange er brauchte, was verrückt war, da es bloß darum ging, die Zeit irgendwie auszufüllen, den Tag schneller herumzubringen. Er musste rechtzeitig zurück sein, um mit den Jungs zum Kasino zu fahren - nicht dass ihm das etwas ausmachte. Er würde die Holga und ein, zwei Filme mitnehmen, auf der Nostalgieschiene fahren, die alten Flipperautomaten und Sexappeal-Tester, die ölverschmierten Taue der Fähre.
      Das

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