Abschied von Chautauqua
Erwachsenen gefragt, ob du das trinken darfst?», fragte Emily.
«Nein.»
«Du musst erst frühstücken. Frag deinen Vater, ob er dir was macht.»
Wortlos gehorchte er, mit unverhohlener Gleichgültigkeit, und sie seufzte. Unvorstellbar, dass sie sich so gegenüber ihrer Großmutter Hedrick benommen hätte. Danach hätte sie sich eine Woche lang nicht auf ihre vier Buchstaben setzen können.
«Regen, Regen, verzieh dich», sagte sie an der Hintertür und streckte den nassen Regenschirm nach draußen, bevor sie hinausging. Auf der Treppe war sie vorsichtig, passte auf, wo sie hintrat, und hielt unterdessen die Ansichtskarte fest in der Hand, aus Angst, sie könnte ihr hinfallen und das Wasser würde die Tinte verschmieren.
Ein Windstoß stieß sie von hinten wie eine Hand; sie bekam Angst um den Regenschirm, zog ihn bis zu ihren Schultern herunter.
«Einfach grässlich», sagte sie und platschte die Einfahrt entlang.
Die Straße war verlassen, ihre Kröte nirgends zu sehen. Als sie den Deckel aufklappte, befürchtete sie, schon die heutige Post vorzufinden, doch als sie an dem Riegel zog, sich dicht über den Briefkasten beugte und das trockene Innere mit ihrem Regenschirm schützte, sah sie bloß ein Gewimmel von Ameisen.
Sie wich zurück, als hätte jemand auf sie eingestochen, wobei ihr die Ansichtskarte aus der Hand flatterte. Emily versuchte, sie mit ihrer freien Hand aufzufangen, doch sie griff daneben, und die Karte landete mit dem Bild nach unten auf der Straße. Emily wollte sie rasch aufheben, bevor wirklich ein Schaden entstand, schabte sie dabei aber über den nassen Asphalt.
«Verdammter Mist!»
Die Karte war ruiniert. Man konnte sie noch lesen, aber die Vorderseite sah furchtbar aus, als wäre jemand draufgetreten (und sie hatte sie sich extra im Souvenirladen des Instituts ausgesucht, eine altmodische Aufnahme des Sees aus den sechziger Jahren, das Wasser swimmingpoolblau). Diese Karte konnte sie Louise nicht schicken.
Sie ließ den Deckel offen, in der eitlen Hoffnung, der Regen könnte einige Ameisen vertreiben, und stapfte mit starrem, konzentriertem Gesicht zur Küche zurück.
«Kenneth!», rief sie, noch bevor sie zur Tür hereinkam. «Kenneth!»
* 11
Er hatte es geplant wie ein Verbrechen und sich die Gelegenheit zum Fotografieren erschlichen. Er hatte die beiden Benzinkanister dabei, angeblich, um zwei Fahrten zusammenzulegen, aber in Wirklichkeit, um Zeit zu gewinnen, damit er einen Vorwand hatte, zum Gas-n-Go zu fahren. Er hatte einen Film in die Holga eingelegt, die sperrig wie ein Revolver in der Tasche seiner Windjacke steckte. So schlecht es in der Garage auch gewesen sein mochte, es war ein Anfang. Morgan hatte wie immer Recht. Fotografiere ein Bild nach dem anderen, einen Film nach dem anderen, bleib einfach dran, bis irgendetwas passiert, denn es wird etwas passieren. Es war bloß eine Frage der Geduld - wie bei allem, hatte Morgan gesagt -, und Ken hatte Geduld. Wenigstens das hatten die letzten zehn Jahre gezeigt.
Im Moment gab es sonst nichts, was er mit seinem Leben anfangen wollte. Er hatte sein Los gezogen, wie seine Mutter es theatralisch ausdrückte, und es war zu spät, sich zu ändern.
Es gab Zeiten wie jetzt, wo er bei leise laufendem Radio und eingeschalteten Scheibenwischern vor sich sah, wie er einem festlich gekleideten Publikum für einen Preis dankte, während hinter ihm eine tolle bombastische Vergrößerung eines seiner Fotos auf die gebohnerte Bühne herabgelassen wurde, das Bild, das er zuerst gesehen hatte, inzwischen auf der ganzen Welt so berühmt wie Eddie Adams' Foto von der Hinrichtung eines Vietkong auf offener Straße. Ken hielt die Goldstatuette, die Medaille hoch und beugte sich in seinem schicken Smoking über das stielförmige Mikrophon. «Ich möchte meiner Frau Lise danken», würde er beginnen, «und meinem Lehrer Morgan.» Seinen Kindern, seinem Vater, seiner Mutter. In seinen Tagträumen widmete er den Preis seinen eigenen Studenten, der neuen Generation, der sie die Zukunft der Kunst anvertrauen konnten. Der Beifall begleitete ihn von der Bühne.
So absurd es auch erscheinen mochte - unmöglich, da niemand seine Bilder haben wollte -, genau das war seinem Kommilitonen Davis Larrimore vor zwei Jahren wirklich passiert. Eigentlich war Larrimore ein Stümper, doch sein Schwager hatte Beziehungen und besorgte ihm einen Job im Newsweek-Büro in Seoul. Er hatte gerade
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