Abschied von Chautauqua
ist», sagte Arlene, die wie gewöhnlich versuchte, einen persönlichen Streit in eine abstrakte Diskussion zu verwandeln. «In einigen Gesellschaften ist es ein Initiationsritus.»
«Nicht in der westlichen Gesellschaft», sagte Emily. «Ich bin mir sicher, es ist ein bürgerliches Vorurteil von mir, und ich hinke der Zeit hinterher ...»
«Stimmt genau», fiel Meg ihr ins Wort. Lise wartete darauf, dass sie sich umdrehte und den Pullover hochzog, damit Emily die Sonne mit den schlangenlinienförmigen Strahlen auf ihrem Rücken sehen konnte.
«Danke, aber ich finde es haarsträubend, dass wir jetzt deshalb eine Generation von Jugendlichen haben, die aussehen, als kämen sie aus dem Kuriositätenkabinett. Ehrlich. Es ist nicht mehr so wie damals, als ihr aufgewachsen seid. Man kann sich immer die Haare schneiden oder sie wieder wachsen lassen, aber so etwas lässt sich nicht rückgängig machen. Herrgott nochmal, es ist in ihrem Gesicht.«
«Es lässt sich abwaschen», sagte Ken.
«Genau», sagte Emily, die ihn missverstanden hatte.
«Die Jungs wissen, dass es nur kurze Zeit hält», warf Lise ein, «deshalb wollten sie es doch haben. Sam hat Angst vor Nadeln, und Justin auch.»
«Man sieht keine Mädchen, die so etwas tun.»
Diese Behauptung war auf so vielen Ebenen falsch, dass Lise gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte, und in der Zeit, die sie brauchte, um eine passende Antwort zu finden, merkte sie, dass es ihr bei der ganzen Sache darum ging, sich herauszuhalten und die Auseinandersetzung mit Emily Ken und Meg zu überlassen. Emily hörte ihr sowieso nie zu. Lise beschäftigte sich damit, ihr Weinglas auszutrinken, und beobachtete, wie sich auf ihrer Seite der Veranda die Regentropfen auf den Rhododendronbüschen sammelten und dann von den breiten Blättern herabfielen. Es war kühl, doch sie hatten es satt, im Haus zu bleiben.
«Wie steht's mit Make-up?», fragte Meg. «Das ist doch dasselbe.»
«Nein, tut mir Leid, aber Lidschatten und Tätowierungen sind etwas anderes.»
«Ich hab nicht gedacht, dass das ein Problem sein würde», sagte Ken, und Lise sah, dass er langsam seine berühmte Geduld verlor. Es kam selten vor, aber wenn er direkt angegriffen wurde, konnte er unnachgiebig sein. « Sie haben sie aus einer Packung Cracker Jack.»
«Die sind schon seit Jahren in den Cracker Jack-Packungen», bezeugte Arlene. «Meine Kinder haben sie sich immer auf die Hände geklebt, das war damals cool.»
Lise machte sich auf eine Bemerkung Emilys über den sittlichen Verfall der Innenstädte gefasst, was zu einer Auseinandersetzung zwischen ihr und Meg führen würde, einem langen Hin und Her zwischen moralischer Empörung und praktischer Anwendbarkeit, einer Probe, wer mehr über die wirkliche Welt wusste. Ihr Wortgefecht langweilte Lise. Ihre Familie bestand aus alten North Shore-Republikanern, die nicht über persönliche politische Ansichten redeten. Bei ihren Gesprächen vor dem Abendessen ließen sie den Tag noch einmal unbeschwert Revue passieren und machten dann Pläne für den nächsten Tag, stimmten darüber ab, was sie tun würden und wer sich um die Kinder kümmern würde, wer fürs Mittagessen verantwortlich war, die Aufgaben sinnvoll aufgeteilt, damit sich niemand gekränkt fühlte. Am Strand würden sie weder über die Bedeutung und Geschichte von Tätowierungen noch über die Folgen der Regulierung des Internets sprechen. Dazu war ihnen ihre Zeit zu kostbar, und sie widmeten sie lieber der Entspannung. Es kam Lise vor, als müssten die Maxwells bei allem Prinzipien aufstellen, es sei denn, sie hatten ihre Haltungen schon im Voraus bezogen, sodass ihre Argumente eine nervtötende Unvermeidlichkeit besaßen. Immer hatten beide Seiten Recht und beide Seiten Unrecht, denn so waren sie. Die Ehre und die Einstellung standen auf dem Spiel. Der einzige Kompromiss war ein milderer Ton, eine Entschuldigung unter vier Augen.
Doch manchmal gab es auch Erbarmen, ein Nicken als Zugeständnis, einen rätselhaften Rückzug im Schutz unerwarteten Schweigens, über deren Gründe man nur Vermutungen anstellen konnte. Meg sagte nichts von ihrer Tätowierung, ließ Emilys Behauptungen unwidersprochen. Ken tat das Ganze mit einem Schulterzucken ab, froh, dass wieder Frieden eingekehrt war.
Lise brauchte noch einen Wein und nutzte die Pause, um durch die Fliegentür zu verschwinden. Die Mädchen waren oben, die Jungs lagen im Wohnzimmer auf dem
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