Abschied von Chautauqua
konnte nicht schlafen, und wenn, dann träumte sie von ihr. Alle Symptome passten, deshalb hatte es keinen Zweck, so zu tun, als wäre es keine Liebe. Die Frage war, was sie jetzt tun sollte.
Das Erste, was ihr einfiel, war, nichts zu tun, sie würden bloß Cousinen sein, die Woche zusammen verbringen und dann sagen : Bis bald, wir schreiben oder, noch besser, wir mailen uns, obwohl sie wussten, dass sie es nicht tun würden. Sie sah vor sich wie sie zu Hause saß und alle zehn Minuten überprüfte, ob eine E-Mail gekommen war. Sarah würde wieder mit ihrem Freund Mark oder mit einem neuen Freund zusammen sein. Wenigstens sagte sie, dass sie ihn liebte; vielleicht hatte sie Angst davor, was Ella denken könnte. Aber Sarah hatte keine Angst, so war Sarah nicht, und sie und Mark, das war nichts Ernstes. Ella musste den ersten Schritt tun und wusste, dass sie das nur tun würde, wenn etwas Außergewöhnliches passierte. Das beschämte sie, und sie fühlte sich schwach und war wütend auf sich, aber nicht imstande, etwas daran zu ändern.
Die zweite Möglichkeit war, Sarah ihre Gefühle zu gestehen. Sarah würde entweder ausrasten, oder sie würden drüber reden. Das war riskant, denn es war zu viel Überlegung im Spiel.
Die dritte Möglichkeit war, sie einfach zu küssen.
In ihren hochfliegendsten und niedergeschlagensten Momenten gefiel das Ella am besten. Es würde schnell und ehrlich sein, endgültig. Ihre Chancen standen sowieso überall gleich.
Das war die letzte Zuflucht. Meistens war sie zwischen den beiden ersten Möglichkeiten hin und her gerissen und überlegte, wie sie ganz beiläufig Sarahs Ansicht übers Lesbischsein herausfinden konnte, ohne sich zu verraten. «Und», würde sie sagen, «wie findest du, dass Ally Ling geküsst hat?» oder «Dass Ally Ling geküsst hat, war nichts Besonderes; ich meine, sie hatte doch schon Georgia geküsst.» Das waren die beiden besten Sätze, die ihr einfielen, und sie wartete immer noch auf die Gelegenheit, sie anzubringen. Sarah schien sich die Serie nicht anzusehen.
Sie würde nichts tun. Es war ein zu großes Risiko, und das Ganze war vermutlich bloß eine Schwärmerei (sie war nicht lesbisch, schließlich waren alle in ihrer Klasse in Miss Friedhoffer verliebt gewesen). Wenn Sarah es ihrer Mutter erzählte, würde die es Ellas Eltern erzählen, und dann gäbe es eine Riesenaufregung. Es war besser, wenn Ella alles für sich behielt, es niemandem sagte. Das ist nicht so schwer, dachte sie. Darin hatte sie schon ein Leben lang Übung. Es waren nur noch drei Tage.
Sie spielten. Sarah gewann, dann gewann Ella. Es war beiden egal das gefiel Ella. Es machte sie schon glücklich, wenn sie bloß mit ihr zusammen war. Sie mussten nichts Besonderes tun. Sie mussten sich nicht mal küssen. Es genügte, ihre Freundin zu sein. So würde es länger halten.
«Wie spät ist es?», fragte Sarah.
«Keine Ahnung, halb vier, vier.»
Sarah stemmte sich hoch, ging mit ihrem Blatt zur Frisierkommode. Sie schob den Nagellack beiseite und suchte etwas.
«Hast du meine Taschenuhr irgendwo gesehen?»
«Nee.»
Sarah beugte sich über die Kommode und blickte dahinter, hielt dann ihr Haar mit beiden Händen hinter dem Kopf zusammen, ging gebückt rundherum und sah auf dem Teppich nach. Ella stand auf und half ihr suchen. Sie dachte, die Uhr könnte irgendwie unter die Kommode gerutscht sein, und schob die Hand drunter, aber sie fand bloß ein grünes Plastik-A mit Magnet.
«An die kann ich mich noch erinnern», sagte Sarah. «Mit denen haben wir auf dem Kühlschrank Wörter gebildet. Ich frag mich, wo die übrigen sind.»
Sie fingen an, danach zu suchen. Hinter dem gestreiften Sitzsack am Kamin stand ein alter Karton, der aussah wie der, in dem sie zu Hause auf dem Dachboden ihren Weihnachtsbaumschmuck aufbewahrten. Der Karton stand schon da, seit sie klein waren, wahrscheinlich sogar noch länger, denn die Spielsachen darin waren altmodisch und aus Holz, Lastwagen und Puppenhausmöbel, die Grandpa für ihren Vater und Tante Margaret gemacht hatte, als sie noch Kinder waren. Die Pappe hatte sich im Lauf der Jahre dunkel gefärbt, doch Ella konnte noch immer die Spuren eines orangen Buntstifts erkennen, ein wackliger, ungelenker Stern, den irgendwer schon vor ihrer Geburt gemalt hatte. Sarah zog einen Tonka-Abschleppwagen mit einem Haken hervor, den man einholen konnte wie eine Angelschnur - jede Menge kleine bunte
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