Abschied von Chautauqua
eingeschlafen, der arme Kerl. Ich glaube kaum, dass er viel Spaß hat.»
«Heute in der Spielhalle hat er sich gut amüsiert.»
«Ich mach mir Sorgen um ihn. Er ist anders als Sarah.»
«Du meinst, er ist anders als du.»
«Weißt du, wem er ähnlich ist?», fragte sie.
«Wem ?»
«Ich finde, er hat große Ähnlichkeit mit dir. Er sagt auch nie was.»
«Dann ähnelt er Dad, nicht mir.»
«Das ist dasselbe», sagte sie. «Sehr männlich, alles geheim halten.»
Darüber musste er lachen. Sie war die größte Geheimniskrämerin von allen.
«Okay», sagte sie, «das hab ich verdient, aber es stimmt, er behält alles für sich.»
«Bis zu einem gewissen Grad tut das jeder. Stell dir vor, wie es wäre, wenn wir das nicht tun würden.»
«Das brauch ich mir nicht vorzustellen, nicht nach dem letzten Jahr. Es ist, als wäre mein Inneres nach außen gekehrt worden.»
«Dir geht's aber trotzdem gut?», fragte er.
«Hier ist es einfach. Wenn ich allein bin, ist es ein Problem.»
Dabei ließ er es bewenden. Er wünschte, sie hätten den Kamin angezündet, doch jetzt war es zu spät.
«Und was ist mit dir?», fragte sie. «Hast du auch schon mal so was durchgemacht, oder passiert das bloß mir?»
«Natürlich», erwiderte er, «immer wieder.»
Er war froh, sie beruhigen zu können. Denn es war die Wahrheit. Er wusste, dass Lise ihn für überempfindlich hielt, aber er hatte ihre eigenen trübsinnigen Momente erlebt, Nächte, in denen sie, statt zu weinen, geduldig wartete, bis im Fernsehen die Nachrichten kamen, damit sie ins Bett gehen konnte, ohne dass er sagte, es sei doch noch früh, und wenn er ihr folgte, schlief sie schon oder tat zumindest so, von ihm abgeschnitten, doch der ihm zugekehrte Rücken war eine Botschaft, aus der er bloß herauslesen konnte, dass sie wütend war, weil er sie nicht verstand (womit sie Recht hatte). Solche Momente waren normal, besonders in diesem Lebensabschnitt, wo man versucht war, zurückzublicken und alles zu bereuen, was schief gelaufen, alles, was unerledigt geblieben war. Manchmal konnte das lähmend sein, aber dann musste man aufstehen, um zu arbeiten, um die Kinder in die Schule zu schicken. Er fand es eigentlich ziemlich nutzlos, dass die einzige Lösung darin lag, sich zu beschäftigen, der Frage aus dem Weg zu gehen, denn sie stellte sich immer wieder. Doch das konnte er Meg nicht sagen.
«Das geht vorbei», sagte er.
«Das ist gut. Darauf hoffe ich. Es war einfach ein schlimmes Jahr, mit Dad und allem.»
Schlimme Jahre, hätte er am liebsten gesagt. Sie war schon vor der Sache mit ihrem Vater so gewesen, schon bevor sie und Jeff sich auseinander gelebt hatten, bevor sie in die Reha gegangen war.
«Ganz sicher», bekräftigte Ken.
Sie hörten Lise die Treppe herunterkommen und verstummten kurz, als wären sie bei etwas ertappt worden.
«Niagara Falls», sagte Ken, als hätte er darüber nachgedacht.
«Ich drehte mich langsam um, Schritt für Schritt, Zentimeter um Zentimeter.» Megs Finger hingen wie Klauen vor ihrem Gesicht. Dieses Spiel spielten sie schon seit ihrer Kindheit, wegen der Liebe ihres Vaters zu den Three Stooges (ihre Mutter hatte kein Verständnis dafür).
Lise ließ sich mit ihrem Buch neben ihm aufs Sofa sinken. «Die Mädchen schnattern noch, aber die Jungs schlafen.»
Aus Gewohnheit bedankte sich Ken bei ihr.
«Und, wann wollt ihr morgen los?», fragte Lise.
«Neun, schätze ich», antwortete Meg.
Der Ton im Zimmer hatte sich verändert, und Ken wusste, dass er und Meg sich jetzt nicht ernsthaft unterhalten konnten. Lise legte beim Lesen die Hand auf seinen Schenkel, wofür er sich am liebsten bei Meg entschuldigt hätte. Er hatte das Gefühl, in einen Wettkampf verwickelt zu sein, und solange beide da waren, war es eine Pattsituation. Sie saßen auf beiden Seiten wie Leibwächter und lasen. Er schaltete bei leise gestelltem Ton den Fernseher an, obwohl die Nachrichten erst in zwanzig Minuten kamen. In der Küche sprang die Geschirrspülmaschine an.
* 24
Bevor sie das Geschirr wegräumte, bekiffte sie sich in der Garage. Es gefiel ihr, high ins Bett zu gehen, sich in wilde Träume zu schleudern und zu schlafen wie ein Stein. Dann fiel ihr zwar das Aufstehen schwerer, doch den ganzen Frühling hindurch hatte sie sich gezwungen, Sarah vor dem frühen Bus das Frühstück zu machen, und sie hatten beide
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