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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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geschlossenen Augen und vom Champagner hervorgerufenen Kopfschmerzen auf dem eleganten Rücksitz zurücklehnten, während ihr Onkel, der Antialkoholiker, den Wagen lenkte und Henry ihre Hand ergriff. Sie war damals dreiundzwanzig gewesen, eine erwartungsfrohe Braut. Fast neunundvierzig Jahre, dachte Emily und wappnete sich gegen den Schmerz darüber, dass die fünfzig nicht voll geworden war. Sie fragte sich, an was sie sich noch erinnern würde, wie viel sie bereits mit den Ausflügen durcheinander brachte, die sie in den sechziger Jahren unternommen hatten, mit den verwackelten Amateurfilmen von den Kindern, die neben dem unzureichenden Geländer winkten, hinter ihnen Goat Island und der Fluss, der blau dahinwirbelte, bevor er sich aufgewühlt und schäumend über den hohen Steilhang ergoss. Es war kein Tosen zu hören, nur das Surren des Projektors, und das Bild flimmerte auf der Leinwand, die Henry in der Pearl Street neben dem Kamin aufgestellt hatte, der grüne Teppich, den sie nicht ausstehen, aber aus Geldgründen auch nicht durch einen anderen ersetzen konnte, mit Popcorn gesprenkelt. Die Kinder wollten immer, dass er alles rückwärts laufen ließ.
      Neben ihr lachte Sarah, und der Film, wo gerade ein Spielzeugcowboy einen Spielzeugdinosaurier wie ein Wildpferd ritt fesselte wieder Emilys Aufmerksamkeit. Trotz all der technischen Tricks war der Film todlangweilig, vielleicht sollte er auch ihrer Aufmerksamkeit entgehen. Die Hälfte dessen, worüber sie lachten, war ihr ein Rätsel, Insiderwitze aus Fernsehsendungen, die sie noch nie gesehen hatte. So einfach die Geschichte auch gestrickt war, sie konnte dem Handlungsstrang nicht mehr folgen. Die Spielsachen schienen von einem bekannten Lied zum nächsten zu springen, rasend schnell wie in einem schlechten Musical. Am liebsten wäre sie ins Bett gegangen und erst morgen wieder aufgewacht, dichte Regenwolken über dem See. Wenn die anderen kein Interesse hatten, konnten sie und Arlene auch allein zu den Wasserfällen fahren.
      Inzwischen hoffte sie auf Regen. Sie konnte schlecht verlangen, dass sie einen Sonnentag dafür opferten. Arlene würde Schwierigkeiten machen und schließlich nachgeben, doch an den Fällen würde es von Touristen wimmeln, und sie hatte keine Lust, sich so einem unwürdigen Gedränge auszusetzen. Bis jetzt hatte sie von ihren Erinnerungen gezehrt. Es würden noch andere Sommer kommen.
      Margaret verschwand nach oben, um noch einmal nach Justin zu sehen. Der Film war bestimmt bald zu Ende. Die Kinder mussten eigentlich längst im Bett sein, und sie selbst auch bald. Rufus hatte sich schon vor einiger Zeit auf den kleinen Teppich vor ihrer Frisierkommode zurückgezogen. Die Filmmusik übertönte das beruhigende Regengeprassel, bei dem man so wunderbar einschlafen konnte. Sie drehte sich um und betrachtete das Fenster hinter sich, wo die Tropfen wegen der Straßenlaterne am Haus der Wisemans kupferrot leuchteten. Es war so hell, dass man nicht weiter sehen konnte, da waren nur das dunkle Spiegelbild der Vorhänge und ihr Gesicht, gnädigerweise weich gezeichnet, überraschend faltenlos.
      Achtundvierzig Jahre, und schon mit dreiundzwanzig war sie kein Mädchen mehr gewesen, sondern eine junge Frau, ans Großstadtleben gewöhnt, die mit der verrückten, staksigen Joce-j in der schäbigen Wohnung herumgesessen hatte, als wäre pittsburgh New York und sie beide für den Broadway bestimmt, zumindest aber für Radio City. Sie besaß Bilder aus der Zeit davor - Fotos, die ihr Vater auf den Stufen hinterm Haus oder bei der Einschulung von ihr gemacht hatte, wo sie durch ihre pfirsichroten Wangen ein kindliches Gesicht hatte und ihr Körper bereits unter dem Kleid erblühte. «Wer ist denn diese scharfe puppe?», hatte Henry immer im Scherz gesagt, und manchmal war Emily neidisch gewesen, weil dieses Mädchen aus Kersey verschwunden, nicht mehr sie war. Wie sehr hatte sie sich angestrengt, um dieses Mädchen loszuwerden, und dann vermisste sie es, wünschte sich, sie könnte zu jenem beschaulichen Leben zurückkehren, das Haus ihrer Mutter am Waschtag nur ein Schemen im Dampf, die gebleichten Bettlaken an der Wäscheleine gebauscht wie Segel, die Klammern abgeworfen, sodass sie im kalten Gras danach suchen musste.
      Margaret tauchte wieder auf und legte den Kopf seitlich auf die gefalteten Hände - Justin schlief. Der verflixte Zeichentrickfilm nahm einfach kein Ende. Das Ärgerliche war, dass er ein großer Erfolg gewesen war.

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